Kakao, durch den sie mich ziehen

Kleinparteien Auch bei dieser Wahl gilt: Es ist weder unpolitisch noch verantwortungslos, seine Stimme zu „verschenken“
Ausgabe 37/2021
Kakao, durch den sie mich ziehen

Montage: der Freitag; Material: Getty Images

Wählen ist für mich eine Selbstverständlichkeit. Ich weiß das Privileg, an freien und geheimen Wahlen teilnehmen zu dürfen, zu schätzen. Für mich gehört dazu freilich auch die Freiheit, meine Stimme zu „verschenken“, wie man abfällig sagt. Also Parteien zu wählen, die keine realistische Chance haben, die Fünf-Prozent-Hürde zu überwinden, oder meinen Stimmzettel ungültig zu machen.

Die meisten Wahlen sind von einer Art Grundrauschen begleitet. Suggeriert wird im Vorfeld, es gehe um alles, um Freiheit oder Sozialismus, Aufbruch oder Stagnation, Krieg oder Frieden, Wohlstand oder Armut oder gar – ganz aktuell – die Zukunft des Planeten. Einige Male bin ich darauf reineingefallen und habe Parteien gewählt, die versprachen, alles ganz anders und viel besser zu machen, und die sogar eine echte Chance hatten, an künftigen Regierungen beteiligt zu sein.

Doch das erwies sich stets als furchtbarer Irrtum. 1998 wählte ich die Grünen, also eine Partei mit starken Wurzeln in der Friedens- und Umweltbewegung, die sich anschickte, gemeinsam mit der SPD – in der damals Oskar Lafontaine noch eine bedeutende Rolle spielte – die bleierne Kohl-Ära mit einer sozial-ökologischen Koalition zu überwinden. Geliefert wurden aber Agenda 2010, Hartz IV und die erste deutsche Teilnahme an einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg seit 1945. 2002 wählte ich in Berlin die PDS, deren beliebter Spitzenkandidat Gregor Gysi „Eine Stadt für Alle“ versprach. Auch hier wurde etwas ganz anderes geliefert: Der Verkauf von über 100.000 kommunalen Wohnungen an Finanzinvestoren, Lohnkürzungen im öffentlichen Dienst, brachialer Abbau der sozialen Daseinsvorsorge und großflächige Privatisierungen.

Auch diesmal gibt es wieder dieses Grundrauschen. Ziemlich überraschend scheint es durchaus möglich, dass die Ära nach Angela Merkel nicht von ihrem designierten Nachfolger aus den eigenen Reihen eingeläutet wird, sondern von einem SPD-Kanzler. Was weniger der Stärke der Partei oder der Strahlkraft ihres Spitzenkandidaten Olaf Scholz geschuldet ist, sondern dem blamablen Personal der Konurrenz.

Mit Scholz bekämen wir einen Kanzler, der in seiner langen politischen Karriere im Bund und im Stadtstaat Hamburg mehr Dreck an seinem Stecken aufgesammelt hat, als hier aufgezählt werden könnte. Doch es rauscht trotzdem gewaltig. Die offenbar nicht totzukriegende Schimäre einer „rot-rot-grünen Reformkoalition“ wird vor allem von den Linken bemüht. In schillernden Farben wird eine sozial gerechtere Republik beschworen, in der auch der Klimaschutz hohe Priorität besitzt. Dabei ist jenseits minoritärer r2g-Besoffenheit jedem Menschen klar, dass es diese „Reformkoalition“ nicht geben wird. Und falls wider Erwarten doch, dann zu dem Preis, dass die Linke ihren Wesenskern vor dem Betreten des Kabinettsaals an der Garderobe abgeben muss. Denn in der nächsten Legislaturperiode wird es vor allem um eines gehen: Die Begleichung der ganz großen Rechnung für die Corona-Pandemie und die Abwälzung der Klimakosten auf die Bevölkerung. Glauben Sie nicht? Wir sprechen uns in 2025.

Ich habe also wie schon letztes Mal die PARTEI gewählt, im Bund wie in Berlin. Ist das „unpolitisch“ oder angesichts des Ernstes der Lage gar „verantwortungslos“? Was für ein alberner Vorwurf. Seit vielen Jahren engagiere ich mich in meinem Kiez und vor allem publizistisch für bezahlbare Mieten und sozialen Widerstand. Das wird auch so bleiben. Aber ich werde nicht den Kakao trinken, durch den mich die großen Parteien seit Jahren ziehen.

Die PARTEI hält der etablierten Politik mitunter ausgesprochen intelligent und witzig den Spiegel vor und hat zudem mit Martin Sonneborn die mit Abstand überzeugendste Frontfigur. Und Losungen wie „Das Bier entscheidet“ oder „Mindestens 20 Prozent sozialer als die SPD“ sind um Längen glaubwürdiger als das ganze Gedöns, was in diesem Wahlkampf sonst noch so angeboten wird.

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