Dienstleister Der „Focus“ ging mit der Floskel „Fakten, Fakten, Fakten“ an den Start, sollte aber bald den Beweis antreten, dass Fakten- und Wahrheitsliebe nicht das Gleiche sind
Helmut Markwort, der langjährige Herausgeber und Chefredakteur des Nachrichtenmagazins Focus, fühlte sich vermutlich vom Zeitgeist beseelt. Jedenfalls lautete sein biederer Werbeslogan: „Fakten, Fakten, Fakten – jede Woche hier im Focus“. In der Medienwelt gab es bis dahin nur einen vergleichbaren Gemeinplatz: „Ich sage nur China, China, China“, erklärte einst der Kanzler Kurt Georg Kiesinger. Man hatte es in beiden Fällen mit quasi-magischen Beschwörungsformeln zu tun, die Wissen suggerieren, Ansprüche erheben, Vollgas im Leerlauf geben. Der Focus aus dem Hause Burda, dem Fachverlag für buntes Allerlei, trat 1993 als Konkurrent zum Nachrichtenmagazin Der Spiegel an, blieb aber immer dritter Sieger hinter diesem und dem Stern
tter Sieger hinter diesem und dem Stern. Im Hamburger Pressemilieu hieß der Focus „Münchner Illustrierte“, bis die Redaktion 2016 ihren Sitz nach Berlin verlegte.Gepflegter LobbyismusFakten sind das Agens jeder auf Qualität bedachten journalistischen Arbeit. Auswahl, Wertung und Umgang mit Fakten gleichen einem heiklen Jonglierakt mit den vier Kugeln Information, Analyse, Kritik und Aufklärung. Was den Focus betrifft, so krachten in seiner ersten Nummer vom 18. Januar 1993 alle vier Kugeln auf den Boden. Die Titelgeschichte über „Genschers Comeback“, die vom zukünftigen Bundespräsidenten Genscher handelte, erwies sich als faktenfrei. Das Magazin verdaute den Flop nie, und seit 1998 sank die Auflage um fast 40 Prozent. Weitere Unfälle folgten – etwa die Veröffentlichung eines Exklusivinterviews mit dem greisen Ernst Jünger, das zwei Jahre zuvor ganz „exklusiv“ in der Bunten erschienen war.Dass der Focus für rechtsliberale Politikerinnen wie Julia Klöckner (CDU) und die Heidelberger Fast-Doktorin Silvana Koch-Mehrin (FDP) Blogs einrichtete, förderte den Ruf des Blattes als Hort für Fakten nicht gerade, brachte ihm aber die politische Etikettierung als „liberal-konservativ“ ein, wie Thomas Leif vom „Netzwerk Recherche“ konstatierte. Zu diesem Image trug außerdem die Schützenhilfe bei, die das Magazin beflissen dem Rechtsaußen-Blatt Junge Freiheit leistete, als dieses unter Beschuss kam.Focus verspricht bis heute „News for use“ und gibt sich – wie die Boulevardpresse – gern alltagsnah, leser- und konsumentenorientiert. „Faktisch“ besteht dieser Nutzwert in allerlei Ranglisten über Produkte jeder Art, Ärzte, Universitäten oder auch Städte. Peter Turi, Herausgeber eines Mediendienstes im Internet, nannte das Magazin deshalb einmal „eine Bunte für den Mann“.Der Focus erwirtschaftet rund drei Viertel seines Umsatzes mit Anzeigen. Ein medienwissenschaftliches Team unter Leitung von Professor Lutz M. Hagen zur „Synchronisation von Nachricht und Werbung“ kam 2014 zu folgendem, wenig schmeichelhaften Ergebnis für die beiden Nachrichtenmagazine Spiegel und Focus: In denen werde „über ein Unternehmen umso häufiger und umso freundlicher berichtet, je mehr Anzeigen es in der betreffenden Zeitschrift schaltet“. Auch Helmut Markwort selbst handhabt journalistische Standards eher locker. Obwohl er bekennender FC-Bayern-Fan ist und obendrein Aufsichtsratsmitglied des Vereins war, schrieb er Artikel voller Lobeshymnen für die „Bayern“ und deren dubiose Führung, ohne seine Verstrickung beziehungsweise Befangenheit offenzulegen.Ein Fall von „Embedded Journalism“. Obendrein verschleierte Markwort die Fakten zusätzlich, indem er ein Pseudonym gebrauchte. Ebenso problematisch ist die Zusammenarbeit von Focus Money für die Zielgruppe Schüler und Lehrer mit der neoliberalen Lobbyagentur „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“. Zum Super-Gau für das faktenorientierte Magazin entwickelte sich der Journalisten-Skandal des Bundesnachrichtendienstes (BND). 2005 wurde bekannt, dass der Journalisten geheimdienstlich überwachen und ausspionieren ließ, die im Verdacht standen, von BND-Mitarbeitern mit Informationen versorgt zu werden. Durch den Bericht des Sonderermittlers, des Ex-Bundesrichters Gerhard Schäfer, wurde 2006 öffentlich, dass Erwin Decker und Josef Hufelschulte, beide Focus-Leute, nicht nur Fakten sammelten und analysierten, sondern Informationen und Quellen über Kollegen auch gegen Geld- und Sachleistungen an den Geheimdienst verkauften. Die Pointe des Berichts: Decker denunzierte auch seinen Kollegen Hufelschulte aus Rach- und Eifersucht beim BND und erhielt im Gegenzug vom Geheimdienst „exklusive“ Informationen. Decker legte seine Artikel vor dem Abdruck den Geheimdienstleuten zur Kontrolle vor.Passion fürs „Kästchen“Die skandalöse Kumpanei zwischen Geheimdienst und Journalisten wurde in der deutschen Presse nicht sonderlich intensiv kommentiert, wie Jochen Bittner am 18. Mai 2006 in der Zeit konstatierte. Hans Leyendecker von der Süddeutschen Zeitung äußerte sich hingegen deutlich: „Wenn alles so kläglich ist, wie das, was ich da gelesen habe, dann ist es um das Blatt nicht gut bestellt.“ Der Herausgeber Markwort reagierte gereizt und missachtete journalistische Normen, indem er auf Leyendeckers Körpergröße anspielte: „Leyendecker, das ist ja wirklich ein eifersüchtiger Giftzwerg, der da allein gegen uns rumstänkert. Das berührt uns nicht.“Daraus spricht nur kurzlebiger Stolz auf die wirtschaftlich erfolgreichste Neugründung auf dem deutschen Medienmarkt seit Jahrzehnten. Kaum einer unter den professionellen Medienbeobachtern hat im Jahr 1993 mit einem – aufs Ganze gesehen – erfolgreichen Ausgang der offenen Kampfansage an den Spiegel gerechnet. Ob die steile Karriere der Modewörter „Fokus“ und „fokussieren“, ohne die kein Drittliga-Fußballer mehr auskommt, auch wenn er nur sagen will, dass er Gegner besiegen oder wenigstens ein Tor erzielen möchte, mit dem wirtschaftlichen Erfolg des Magazin zu tun hat, ist nicht zu klären. Die Focus-Bilanz aus publizistischer Sicht: Markworts Devise „Länger recherchieren, kürzer schreiben“ zeitigte sehr zwiespältige Ergebnisse. Die Artikel wurden kürzer, aber dafür angereichert mit allerlei Beigaben (Tabellen, Kurven, Ranglisten, Glossaren, Bildchen und anderen grafischen Accessoires). Dem wirtschaftlich erfolgreichen Focus folgend, sahen viele Zeitungen und Magazine ihre Zukunft in einem optisch gelifteten „Kästchenjournalismus“, der davon ausgeht, man könne dem Leser Texte ohne „Info-Grafiken“ und anderen Schnickschnack nicht mehr zumuten. Zeitungs- und Magazinseiten mit einem Text-/Bild-Verhältnis von 50:50 sind inzwischen keine Seltenheit mehr. Oft nimmt der optische Anteil noch mehr Platz ein.Deshalb sehen Zeitungs- und Magazinseiten heute oft so aus, als rechnete man gar nicht mehr mit Lesern, sondern mit Zeitungssehern in Analogie zu den Zuschauern von Nachrichtensendungen des öffentlich-rechtlichen wie privaten Fernsehens, die mit 30-Sekunden-Spots abgefertigt werden. Ob dieser iconic turn in der Zeitungs- und Magazingestaltung, den Uwe Vorkötter, ehemaliger Chefredakteur der Frankfurter Rundschau, „Verschnipselung“ nannte, den Printmedien aus ihrer Krise hilft, ist fraglich.Was die Faktenbasis journalistischer Arbeit betrifft, so wird sie mit Sicherheit nicht gestärkt, denn die Manipulierbarkeit von Bildern und Grafiken hat sich durch die Möglichkeiten der digitalen Bildbearbeitung noch potenziert. Der Werbeslogan des Focus heißt längst nicht mehr „Fakten, Fakten, Fakten“, sondern „Fakten für Ihre Zukunft“. Dieser Slogan ist jedoch von einer abgründigen Zwiespältigkeit. Wessen Zukunft ist damit gemeint? Das Gerede vom „postfaktischen Zeitalter“ suggeriert, es hätte jemals zuvor ein Zeitalter der Fakten gegeben. Genauso unsinnig ist außerdem die Rede von Fakten im Futurum. Über die Zukunft lassen sich jenseits der Geltung evolutionsresistenter physikalischer und astronomischer Gesetzmäßigkeiten nur mehr oder weniger plausible und wahrscheinliche Vermutungen anstellen. Und welche Fakten in der prinzipiell nicht einsehbaren Zukunft – wenn überhaupt – welche Bedeutung haben werden, ist eine Frage, auf die nur Meinungsathleten und Astrologen eine „sichere“ Antwort haben können.
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