Will man von Russland über Land in das ebenfalls russische Kaliningrad, führen viele Wege durch Litauen. In Moskau hat deshalb die Nachricht schockiert, die Regierung in Vilnius unterbreche bis auf Weiteres den gewohnten Transitverkehr. Sie lasse Waren nicht länger passieren, die auf den EU-Sanktionslisten stehen. Normalerweise rollen pro Monat bis zu hundert Güterzüge durch Litauen, desgleichen Trucks, deren Rückstau an der russisch-litauischen Grenze derzeit bei mehr als zweitausend liegen soll. Der Kaliningrader Gouverneur Anton Alichanow schätzt, dass 40 bis 50 Prozent der Güter, die aus Russland in seine Region fließen, blockiert sind: Metallerzeugnisse, Holz, Kohle und Baustoffe, Ausrüstungen für die Öl- und Gasindustrie, bi
ckiert sind: Metallerzeugnisse, Holz, Kohle und Baustoffe, Ausrüstungen für die Öl- und Gasindustrie, bis hin zu Konsumgütern wie Haushaltsgeräten.Angst geht umLitauen betrachtet den Transfer sanktionierter Waren über sein Territorium als unzulässig, deshalb werde die litauische Staatsbahn sie nicht mehr befördern. Kaliningrad und sein Umland, das historische nördliche Ostpreußen, sind damit einer Isolation vom Mutterland ausgesetzt wie noch nie seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Die Angst geht um vor gedrosselter Versorgung und möglicher Eskalation. Die Gegend rund um das ehemalige Königsberg – der Name ist auch unter dort lebenden älteren Russen noch in Gebrauch – ist so stark vom Austausch mit dem russischen Kernland und dem Handel mit der EU abhängig, dass beim Wirtschaftsmagazin Forbes von der „verwundbarsten Region Russlands im Sanktionskrieg“ die Rede ist.Wichtigster Arbeitgeber in Kaliningrad ist die Firma Awtotor, die im Auftrag von BMW und Hyundai bis zum Ukraine-Krieg Fahrzeuge montiert hat. Das Unternehmen zählt in der Russischen Föderation zu den Top 100 und sorgte in der Exklave für 50 Prozent der Warenproduktion – bis BMW nach Kriegsausbruch die Montage stoppte, während bei der Kooperation mit dem südkoreanischen Konzern die noch vorhandenen Bauteile zur Produktion von Marken-Pkw bis Ende August reichen. „Die logistischen Lieferketten sind kaputt“, urteilte die Filiale Kaliningrad schon vor den Maßnahmen Litauens. Jedenfalls deutet bei Awtotor alles auf einen kompletten Produktionsausfall hin – kein Einzelfall. Der Kaliningrader Bauunternehmer Igor Pleschkow meint: „Es gibt keine Arbeit, keine Einnahmen, nichts um die eigenen Leute, nichts um Auftragnehmer zu bezahlen. Man fühlt sich wie in einem Sog, der alles mit sich reißt.“ Was westliche Sanktionsbefürworter für ganz Russland an Schäden vergeblich erhoffen, kann zumindest in Kaliningrad durch das Verhalten Litauens eintreten.Konsumgüter könnten knapp werdenNach 2000 hatte die regionale Wirtschaft einen spürbaren Aufschwung erlebt, dann aber – zwischen 2014 und 2019 – stagnierte die industrielle Produktion, bis das erste Corona-Jahr 2020 zu einem Rückgang um 6,5 Prozent führte, während die Investitionen um acht Prozent schrumpften. Die einzig boomende Branche blieb bis zuletzt der Tourismus. Russische Inlandsreisende schätzten die Mischung aus dem renovierten Erbe Ostpreußens und einer vergleichsweise modernen postsowjetischen Architektur. Seit dem Ukraine-Krieg freilich sinken die Besucherzahlen, was anfangs auch darauf zurückzuführen war, dass in Kaliningrad eine überdurchschnittlich hohe Inflation zu verzeichnen war. Nach Angaben der Zeitung Nowij Kaliningrad lag sie bei mehr als 40 Prozent. Ob nun Konsumgüter in der Region knapp werden, hängt von der Effektivität russischer Gegenmaßnahmen ab. Jewgenij Perunow, Chef des Verbandes der regionalen Möbelhändler, bringt es für seine Branche auf den Punkt: 90 Prozent des Sortiments seien betroffen, da man fast ausschließlich den Landweg nach Kaliningrad genutzt habe. Nun komme es darauf an, den Transport über die Ostsee schnell auszubauen und EU-Terrain zu umgehen. „Sonst gibt es in Kaliningrad keine neuen Möbel mehr.“ Gouverneur Alichanow rechnet beim Seeverkehr über die Ostsee mit Beistand aus Moskau. Die Bürger sollten sich „keine Sorgen machen“, versucht er zu beruhigen. Tatsächlich war vor der Handelssperre die Kapazität der vier Frachtfähren, die zwischen St. Petersburg und Kaliningrad pendelten, nicht ausgelastet. Von den Kosten her war der Landweg laut Wirtschaftszeitung Wedomosti um bis zu 18 Prozent günstiger. Nun müsse über zusätzliche Schiffe dringend mehr Frachtraum her. Doch sind finanzielle Defizite absehbar, da die Transporter auf dem Rückweg aus Kaliningrad wesentlich geringer ausgelastet sein dürften als umgekehrt.Lenkt Brüssel ein?Was die Menschen nicht nur in Kaliningrad, sondern gleichfalls im benachbarten Litauen umtreibt, ist die Frage nach den Reaktionen der russischen Regierung. Belarus-Präsident Alexander Lukaschenko sprach bei seinem jüngsten Treffen mit Wladimir Putin davon, die Transitbeschränkung käme einer Kriegserklärung gleich. Entsprechend beunruhigt sind die Litauer. Rational wäre eine militärische Reaktion angesichts der NATO-Mitgliedschaft Litauens wohl kaum. Der litauische Außenpolitik-Analyst Gintautas Mazeikis meint gegenüber dem Nachrichtenportal Delfi, dass sowohl ein „rationales als auch irrationales“ Verhalten Moskaus möglich sei. Der überraschende Überfall auf die Ukraine hat offenbar auch Spuren in den Prognosen der Experten hinterlassen.Spekulationen sind in dieser Zeit sowieso Tür und Tor geöffnet. Dabei gibt es nicht nur Propheten des „Worst Case“ im Sinne einer forcierten Konfrontation zwischen der EU und Russland. Der Analyst Dmitri Drise vom Radiosender Kommersant FMin Moskau etwa legt Wert auf seinen Eindruck, dass auch unklare Sanktionsvorschriften Ursache der aktuellen Spannungen sein könnten. Er sehe in Brüssel ein Bemühen um Deeskalation. Die Rede ist von einem Dokument, das den Transit sanktionierter Waren durch EU-Gebiet nach Kaliningrad wieder erlauben soll. Es wäre der einfachste Weg, damit ein brisanter Konflikt nicht ausufert.