Chile ist erwachsen hinsichtlich der ökonomischen Freiheiten, aber auf dem Gebiet der politischen Freiheiten im Zustand der Adoleszenz ..." Das rigorose Urteil stammt aus dem Mund des Sozialisten Ricardo Lagos, seit fünf Tagen Präsident Chiles - der erste Sozialist in der Moneda, seit dort am 11. September 1973 die in einen Teppich gewickelte Leiche Salvador Allendes hinausgetragen wurde. Kurz vor seiner Amtsübernahme hatte Lagos denn auch dem brasilianischen Nachrichtenmagazin Veja erklärt: "Ich verzeihe Pinochet nie, er ist für den Tod von 3.200 Chilenen verantwortlich", er wolle den Ex-Diktator vor Gericht sehen und werde als Präsident die Voraussetzungen dafür schaffen. Im gleichen Atemzug ließ er wissen: Ricardo Lagos werde "kein sozialistischer Präsident" sein, sondern erneut einem Kabinett der Concertación vorstehen, wie die seit 20 Jahren - noch während der Pinochet-Diktatur - aus Christdemokraten (DC) und Sozialisten (SP) gebildete Mitte-Links-Allianz genannt wird.
Schon im Wahlkampf hatte "Don Ricardo", wie er von seiner Entourage respektvoll genannt wird, denn auch mehr auf die eigene Familie als die eigene Partei gesetzt. Sein Hauptquartier arbeitete als Privatbüro in Santiagos Calle de la Providencia - hier liefen die Fäden zuallererst bei Gattin Luisa und der jüngsten Tochter zusammen, die gerade ihr Psychologiestudium abgeschlossen hat. Seine politische Prägung erfuhr Lagos laut eigenem Bekunden an der Universität - durch exilierte spanische Republikaner. Noch immer argumentiert er gern mit Beispielen aus der europäischen - vorzugsweise französischen - Politik, etwa wenn er über das Amt eines chilenischen Präsidenten in den Grenzen einer weithin von Augusto Pinochet oktroyierten Verfassung meditiert. Wie auch immer: Lagos wird viel taktisches Gespür brauchen, wenn er Chile regieren will. Er muss nicht nur den konservativen Koalitionspartner von der DC überzeugen. Vor allem die pinochetistische Kaste hat vorgesorgt, dass sich die Präsidentenmehrheit ständig an einer anderen Senatsmehrheit wundscheuern kann. Nach der Ära Pinochet (1973-1990) bleibt noch immer ein politisch-zivilisatorischer Nachholbedarf - das Wort von der Modernisierung Chiles klingt zwar inzwischen fast banal, gilt indes - und bei neoliberalem Axiom - allein für die Ökonomie.
Von seinen Wirtschaftsdaten her könnte das Land heute alle Maastricht-Kriterien (Staatsverschuldung, Haushaltsdefizit, Inflation) mühelos erfüllen. Doch wieviel oder wie wenig Statistik über Realität aussagt, davon konnte sich Lagos während des Wahlkampfes oft überzeugen, wenn er von unzufriedenen Landsleuten zu hören bekam: "Ich sehe den Fortschritt im Fernsehen, aber nicht in meinem Haus." - Kein "sozialer Defätismus", wie die Rechte gern unterstellt. In Chile existieren zur Zeit weder eine Arbeitslosen-, noch eine staatliche Rentenversicherung. Das öffentliche Gesundheitswesen siecht in letzten Rudimenten vor sich hin. Wer studieren will, muss nicht begabt, sondern liquide sein.
"Ich besuchte noch gratis die Hochschule und bezweifle, dass sich meine Mutter die heutigen Studiengebühren hätte leisten könnte", so Lagos im Wahlkampf, "ein junger Mensch, der nur deshalb nicht studieren kann, weil ihm das Geld dazu fehlt, wird diese Gesellschaft sein Leben lang als ungerecht empfinden." Während einer Europa-Reise wurde der Sozialist im vergangenen Jahr von Sozialdemokraten des Kalibers Schröder/ Blair gefragt, ob er auf den "Dritten Weg" zur Neuen Mitte einzuschwenken gedenke. Die Antwort lautete: "Was ihr modernisieren wollt, müssen wir erst einmal aufbauen."
Normalerweise sind Bonmots ebenso wenig Lagos' Stärke wie spektakuläre Auftritte, aber er galt stets als ein Mann, dem man heikle Missionen übertragen konnte. Kurz bevor die Militärs am 11.September 1973 putschten, hatte Allende den Parteifreund beauftragt, Chile als Botschafter in Moskau zu vertreten. Anstatt dort akkreditiert zu werden, musste Lagos für 13 Jahre ins argentinische, später mexikanische Exil.
Nach seiner Rückkehr 1986 lernte er die chilenische Diktatur sofort von ihrer typischen Seite kennen, als er im Gefolge eines gescheiterten Attentats auf Pinochet verhaftet wurde. Um zwei Uhr nachts drangen acht schwer bewaffnete Carabinieri in sein Schlafzimmer ein - und beruhigten ihn mit vorgehaltener Waffe: "Erschrecken Sie nicht, wir sind Profis." - Das war nicht bloß so dahingesagt: "Inzwischen weiß ich, dass an anderen Orten zeitgleich Leute solche Aktionen ausführten, die keine Profis waren. Die haben ihre Opfer einfach umgebracht." Erfahrungen wie diese bewahren Lagos davor, zu verdrängen oder zu verharmlosen, was unter Pinochets Herrschaft geschehen ist. Dazu kommt die Erinnerung an den ermordeten Allende: "Ich empfinde eine unauslöschbare Loyalität für seine Ideen. Aber es gibt einen großen Unterschied. Er ist mit einer schwachen linken Minderheitsregierung angetreten, und wir stützen uns nun auf eine breite Mitte-Links-Koalition. Das ist unabdingbar, wenn der Übergang von der Diktatur zur Demokratie vollendet werden soll."
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