Dort, wo ein weiterer Konflikt um die Verteilung von Wasser ausgebrochen ist, liegt blauer Himmel über einer stillen Landschaft. Das Ende eines 200 Meter langen Plastikrohrs baumelt von einem Felsvorsprung und führt in eine schmutzige Pfütze, aus der vergeblich Wasser zu pumpen versucht wird. Daneben steht Alqod Mahmoud, 33, und starrt in das ausgetrocknete Flussbett des Diyala, eines der wichtigsten Zuflüsse des Tigris im Nordirak. „In zwei Jahren lebt hier keiner mehr“, sagt der Dorfvorsteher von Topkhane, einem Dorf in der kurdischen Autonomieregion. „Und das alles, weil der Iran Dämme baut und uns verdursten lässt.“
Einst galt die Gegend zwischen Euphrat und Tigris als äußerst fruchtbar. Bis heute hat sich an der Bedeutung der beiden Flüsse für die Region nichts geändert – nur dass mittlerweile viel mehr Menschen mit Wasser versorgt werden müssen. Der Irak zählt zu den fünf Ländern weltweit, die am stärksten von der Klimakrise betroffen sind. Fast ein Fünftel der gut 40 Millionen Einwohner leidet bereits unter Wasserknappheit. Wenn man die Menschen fragt, ist daran vor allem der Iran schuld. Tatsächlich ist das Dilemma um einiges komplexer: Es hat mit wirtschaftlichen Interessen zu tun, korrupten Mandatsträgern, zwischenstaatlichen Verflechtungen und der globalen Klimakrise. Das World Resources Institute, eine globale Denkfabrik für Umweltfragen, hat das Online-Tool „Water, Peace and Security“ (WPS) entwickelt, das Vorhersagen dazu erlaubt, wo in den nächsten zwölf Monaten Konflikte ums Wasser auftreten. Danach erlebt man im Nordirak derzeit einen „emerging conflict“ – einen Konflikt im Entstehen.
Teppich aus Müll
Alqod Mahmouds Söhne servieren klebrig-süßen Schwarztee, während der Vater seine Geschichte erzählt. Vor drei Jahren habe er sich das Pumpsystem angeschafft, das augenblicklich nur noch röchelt. 1.700 Dollar habe es ihn gekostet. Dann seien zuerst die Bagger gekommen, um Kies im Fluss abzugraben. Als Nächstes habe man den riesigen Damm im Iran fertiggestellt. Jetzt führe der Diyala um zwei Drittel weniger Wasser, seine Pumpen seien für nichts mehr zu gebrauchen. Alqod Mahmoud erntet nur noch ein Zehntel der früheren Erträge. Mehrere hundert Dörfer sind allein entlang des Diyala von der Trockenheit betroffen, dazu die beiden Städte Kalar und Halabja. Wie in kaum einem anderen Land hängt die Wasserversorgung im Irak von Quellen außerhalb des eigenen Territoriums ab, in der Türkei und im Iran.
„Als ich hier angefangen habe, dachte ich nicht, dass Wasserknappheit einmal unser Hauptproblem wird“, sagt Namiq Mustafa. Er ist Vizedirektor im Hydrologie-Department des Staudamms von Darbandikhan, einer Kleinstadt in der kurdischen Autonomieregion, 30 Kilometer flussaufwärts von Topkhane. Vom Aussichtsturm geht der Blick 30 Meter in die Tiefe. Unten vor der Schleuse treibt ein Teppich aus Plastikflaschen und Müll im Dammbecken. Alle paar Wochen lassen Mustafa und seine Kollegen die Schleuse öffnen, um die Menschen flussabwärts mit Wasser zu versorgen. Er wisse nie, ob er den Leuten damit mehr helfe oder schade. „Weniger Wasser bedeutet einen immer höheren Grad an Verschmutzung, weil das vorhandene Wasser den Dreck aus den Städten nicht absorbiert. So ist das Wasser flussabwärts kaum mehr für Bewässerung zu gebrauchen, geschweige denn als Trinkwasser“, sagt Namiq Mustafa.
Er arbeitet seit 30 Jahren hier, hat verschiedene Herrscher- und Dürreperioden miterlebt. So schlimm wie jetzt sei es noch nie gewesen. „Seit vier Jahren haben wir Probleme – aber im vergangenen Jahr hat uns der Iran das Wasser ganz abgestellt.“ Die entscheidende Ursache dafür liegt 28 Kilometer flussaufwärts auf iranischem Gebiet. Eingeklemmt zwischen zwei Bergen, verstopft dort der Daryan-Damm wie ein riesiger, fast 170 Meter hoher Pfropf den Fluss, der im Iran nicht Diyala, sondern Sirvan heißt. Die Rede ist von der großen Talsperre eines noch größeren Projekts, dessen Name mehr nach Wellness-Therme klingt als nach Industriekomplex: Tropical Water Project, kurz TWP.
Insgesamt umfasst dieses Vorhaben 14 Dämme, die 1,9 Milliarden Kubikmeter Wasser stauen können. Das Ziel sei es, Energie zu erzeugen und die Flüsse Sirvan sowie Zmkan umzuleiten, sodass Agrargebiete innerhalb und außerhalb des Diyala-Beckens bewässert werden, antwortet Banafsheh Keynoush, zuständig für internationale Beziehungen im Rahmen des Projekts, auf eine Anfrage der Autoren. Dazu wurden 150 Kilometer unterirdische Tunnel gebaut, um eine Milliarde Kubikmeter Wasser von Dämmen vor der Grenze zum Irak auf Felder im Süden des Iran umzuleiten.
Der Anfang August aus dem Amt geschiedene Präsident Hassan Rouhani hatte 2017 verkündet: „Das Tropical Water Project wird die Region komplett verändern. Gerade in dieser Zeit, da der Druck unserer Feinde immer größer wird, ist es ein Zeichen des Widerstands.“ Schon in der ersten Phase des Wiederaufbaus nach dem iranisch-irakischen Krieg (1980 – 1988) sei es bei dem Dammbau nicht nur um Wasser und Energie gegangen, vermerkt Banafsheh Keynoush, ebenso um Nationalstolz: „Es ging um den Stolz der Revolutionäre, die dem Rest der Welt ihre Unabhängigkeit demonstrieren wollten und ihre Fähigkeit, trotz aller Entbehrungen eine neue Ära der Entwicklung einzuleiten.“ Inzwischen seien die Dämme Ausdruck des Bemühens, einer Krise zu entgehen, die zur Gefahr für die nationale Sicherheit werden könne, so Keynoush. Wenn der Iran seine Wasserressourcen nicht zu nutzen verstehe, werde man in zehn bis 15 Jahren in eine Versorgungskrise geraten und mit Massenmigration konfrontiert sein. Man habe daher in den vergangenen Jahren Millionen investiert, um das Wasser innerhalb der Landesgrenzen zu halten. Interessen des Irak spielten dabei keine Rolle. Was nichts daran ändert, dass der Nachbarstaat für die massiven Sanktionen ausgesetzte Islamische Republik einer der wichtigsten Handelspartner ist und gut ein Drittel der iranischen Agrarexporte abnimmt.
Kein Reis, kein Fisch
Der Iran sehe im Irak einen Marktplatz, meint Abdulmutalib Raafat Sarhat, Dozent für Wasserressourcenmanagement an der Garmian University in Kalar, der mit 250.000 Einwohnern größten Stadt am Diyala. Durch den Rückstau des Wassers und die damit verbundene Wasserknappheit würden immer mehr irakische Farmer gezwungen, wasserintensive Kulturen wie Reis, Tomaten, Wassermelonen, aber auch ihre Fischzucht aufzugeben. Für das, was verloren gehe, würden iranische Produzenten in die Bresche springen. „So werden wir von iranischen Waren überschwemmt und sind von ihren Importen abhängig“, sagt Sarhat. Die Einzigen, die das Problem lösen könnten, seien die Regierungen in Teheran und Bagdad, indem sie internationale Abkommen über die gemeinsame Nutzung grenzüberschreitender Ressourcen beschließen – doch da liege das Problem. Völkerrechtlich sei die Nutzung von Flüssen wie dem Diyala eigentlich geregelt. Eine Anspielung auf die Übereinkunft über das Recht der nichtschifffahrtlichen Nutzung internationaler Wasserläufe, das 1997 von den Vereinten Nationen verabschiedet wurde und seit 2014 in Kraft ist. Der Irak hat die Konvention 2001 ratifiziert, der Iran stimmte dafür, hat aber nie ratifiziert, die Türkei war von Anfang an dagegen.
Viele Iraker sind deshalb wütend: auf die Türkei, auf den Iran, vor allem die eigene Regierung. „Was bringen UN-Konventionen, wenn sie niemand umsetzt?“, fragt Sarhat. Der allein gangbare Weg, eine Freigabe des Wassers durch den Iran und die Türkei zu erzwingen, bestehe darin, das Thema vor den UN-Sicherheitsrat zu bringen. Doch dazu könne sich die Regierung in Bagdad nicht entschließen. Zu groß sei die Macht der pro-iranischen Milizen, zu abhängig sei man von der Türkei, ökonomisch und militärisch. So bleibe der Nordirak in einer ausweglosen Situation, erklärt in Erbil Akram Ahmed Rasul von der Generaldirektion für Staudämme und Wasserspeicher der kurdischen Autonomieregion. Er solle das Wasserproblem im Nordirak lösen, fühle sich aber hilflos. „Die Politiker in Bagdad sind Marionetten des Regimes in Teheran. Und Teheran und Ankara haben uns den Wasserkrieg erklärt.“ Seit mehr als zehn Jahren versucht er, das Wasserproblem in den Griff zu kriegen. Seine Taktik ist die gleiche wie die in der Türkei oder im Iran: der Bau von Dämmen. „Inzwischen sind 14 Staudämme fertig, 17 im Bau, 40 bereits geplant und 17 wegen fehlender Mittel auf Eis gelegt“, so Akram Ahmed Rasul. Das klingt so, als sei er tatsächlich davon überzeugt, dass noch mehr Dammbau das Problem löst.
Ali Alkharki kann nur lachen, wenn er so etwas hört. „Wenn sie im Nordirak Dämme bauen, heißt das nur, dass sich das Problem verschiebt, dass die mesopotamischen Sümpfe im Südirak austrocknen und die Menschen weiter stromabwärts verdursten.“ Wir treffen ihn in Sulaimaniyya, einer Stadt in der kurdischen Autonomieregion. Vor ihm auf dem Tisch liegt eine Landkarte, auf die er alle Dämme und Talsperren in der Region eingezeichnet hat. Ali Alkharki ist Teil einer Kampagne, die sich „Save the Tigris“ nennt. Fragt man ihn, wer den Kampf der Dämme gewinnt, ist seine Antwort klar: niemand. „Der Wasserkreislauf funktioniert wie unser Körperkreislauf. Wenn sich überall Thrombosen bilden, dann wird der Körper nicht mehr durchblutet und stirbt.“ 2020 ist Alkharki von Bagdad nach Sulaimaniyya geflohen. 2019 hatte der Wasser-Aktivist für die sogenannte Oktober-Revolution in Bagdad demonstriert, als sich die irakische Jugend gegen die korrupte Regierung auflehnte. Er war daraufhin von pro-iranischen Milizen, die seit 2014 zusehends an Einfluss gewinnen, entführt und gefoltert worden. Für ihn ist es entscheidend, vollends zu verstehen, wie eng die sozialen Unruhen und die Wasserkrise miteinander verflochten sind. „Wenn wir nicht genug Wasser haben, verlieren wir landwirtschaftliche Flächen und Bauern, Fahrer oder Verkäufer ihre Jobs. Darum wird unser Staat immer mehr Geld für Importe ausgeben müssen. Armut und Unsicherheit wachsen, und das treibt die Menschen auf die Straße.“
Deutlich wurde das in der Hafenstadt Basra im Süden, wo im Sommer 2018 Proteste ausbrachen, als Zehntausende in Krankenhäuser eingeliefert werden mussten, weil sie wegen der Wasserknappheit verschmutztes Wasser getrunken hatten. Der Aufruhr in Basra war ein Beispiel dafür, wie die Umweltzerstörung viele Iraker förmlich dazu zwingt, den Status quo in Frage zu stellen. Egal ob im Iran, im Irak oder in der Türkei, meint Ali Alkharki, Dämme seien immer das Problem – niemals die Lösung.
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