An einem heißen Nachmittag im August 2000 treffen vier US-Amerikaner in einer Wohnung des milliardenschweren indischen Pharmaherstellers Yusuf Hamied im Zentrum Londons ein. Ein sechster Mann soll noch hinzukommen, mit dem Flugzeug aus Genf, er ist Franzose und arbeitet für die Weltgesundheitsorganisation. Seinen Kollegen hat er erzählt, er fahre in den Urlaub. Hamied führt seine Gäste ins Speisezimmer im siebten Stock, sie setzen sich an einen runden Tisch. Das Gespräch, das sich über den ganzen Nachmittag und das Abendessen in einem benachbarten Restaurant hinzieht, wird den Verlauf der Medizingeschichte verändern.
Die Zahl der Menschen, die weltweit – vor allem aber in den Entwicklungsländern – mit HIV und Aids leben, hat zu diesem Zeitpunkt die Marke von 34 Millionen überschritten. Hamied und seine Gäste suchen nach einem Weg, das Monopol zu brechen, das Pharmakonzerne auf Aids-Medikamente haben. Sie wollen die lebensrettenden Mittel auch denjenigen zugänglich machen, die sie sich nicht leisten können.
Hamied ist zu dieser Zeit Chef von Cipla, einem in Mumbai ansässigen Unternehmen, das sein Vater gegründet hat, um aus patentierten Medikamenten kostengünstige Generika herzustellen. Nur einen seiner Besucher an diesem Nachmittag hat Hamied zuvor schon einmal getroffen – James Packard „Jamie“ Love, Chef von Knowledge Ecology International, einer gemeinnützigen Organisation, die vom US-amerikanischen Aktivisten Ralph Nader gegründet wurde. Jamie Love hat sich darauf spezialisiert, Bestimmungen zu geistigem Eigentum und Patentregelungen anzufechten.
Ein bekennender Patent-Nerd
Patente garantieren die Absicherung von Investitionen. Man sichert dem Hersteller ein zeitlich befristetes Monopol zu, damit er seine Kosten für Forschung und Entwicklung garantiert wieder reinbekommt. Im Fall von Pharmaunternehmen können das bis zu 20 Jahre Patentschutz sein. Ohne Konkurrenz können die Konzerne in dieser Zeit für die Präparate verlangen, was sie wollen. Love, ein Ökonom und bekennender Patent-Nerd, bemüht sich bei Politikern, Regierungsbeamten und Unternehmensanwälten um eine Änderung der gegenwärtigen Bestimmungen. Er argumentiert gegen die unfairen Monopole auf Produkte, von Software bis zu Briefpapier.
Seine größte Sorge gilt aber dem Umstand, dass viele Millionen Menschen keinen Zugang zu erschwinglichen Medikamenten haben. Jedem, der ihm in den Sinn kam, von den Vereinten Nationen bis hin zur Regierung der Vereinigten Staaten, stellte er immer wieder die gleiche Frage: Wie hoch sind die tatsächlichen Herstellungskosten für ein Medikament, das einen Menschen mit einer HIV-Infektion am Leben erhält?
„Wie Jamie mit skeptischen Regierungsvertretern umgeht – das ist ein Genuss. Wenn Jamie mal in Fahrt ist, schafft es keiner, seine Argumentation zu widerlegen“, sagt Ralph Nader. „Jamie hat viele tausende Leben gerettet, indem er die Pharmaindustrie in die Knie gezwungen und dafür gesorgt hat, dass Medikamente für ärmere Leute erschwinglich wurden.“
Das Londoner Treffen im August 2000 ist vertraulich. Es richtet sich gegen die multinationalen Pharmakonzerne, die ihre Patente mit allen Mitteln verteidigen. Zu diesem Zeitpunkt gibt es in den USA und anderen Industrieländern schon seit vier Jahren einen Cocktail aus drei verschiedenen Medikamenten zur Behandlung von HIV-Infizierten. Zwischen 10.000 und 15.000 US-Dollar kostet er pro Jahr. In Afrika kommt die Diagnose nach wie vor einem Todesurteil gleich. Im Jahr 2000 sind südlich der Sahara mehr als 24 Millionen Menschen mit HIV infiziert. Viele von ihnen sind sehr jung. Viele haben Kinder, können sich die lebensrettende Behandlung aber nicht leisten. Jamie Love kennt einen anderen Begriff für dieses Nord-Süd-Gefälle: Rassismus.
Im Monat vor dem Treffen in London fordern bei der internationalen Aids-Konferenz im südafrikanischen Durban 12.000 Menschen bezahlbare Aids-Medikamente für alle. Der weiße Verfassungsrichter Edwin Cameron nutzt das Forum, um sich als HIV-positiv zu outen und bringt seine Abscheu vor einer Welt zum Ausdruck, in der er sich sein Leben erkaufen kann, andere aber sterben müssen. Der elfjährige Nkosi Johnson, der mit HIV zur Welt gekommen ist, rührt die Menschen zu Tränen, als er sie um mehr Akzeptanz und Verständnis bittet. Im folgenden Jahr stirbt er, ohne eine Behandlung bekommen zu haben.
Yusuf Hamied hatte bereits sogenannte antiretrovirale Präparate hergestellt, die HIV für eine Weile unter Kontrolle halten. Dank des Patentgesetzes von 1970, an dem sein Vater maßgeblich mitgewirkt hatte, haben Pharmapatente, die in den USA oder Europa angemeldet wurden, in Indien im Jahr 2000 keine Gültigkeit – noch nicht. Erst 2005 tritt ein internationales Abkommen in Kraft, das das ändert.
Hamied erklärt Love in London, dass die Herstellungskosten eines Medikaments kaum höher liegen als die Kosten für die nötigen Rohstoffe. Als die Besucher auf dem Rückweg in ihr Hotel sind, steht der Plan. Hamied wird das kostengünstige Triomune herstellen, um es in Afrika und Asien für einen Bruchteil des bisherigen Preises zu verkaufen. In dem Medikament sind die drei Wirkstoffe vereint, die bis dahin von verschiedenen Herstellern in den USA und Europa für Beträge verkauft werden, die in Entwicklungsländern nicht bezahlt werden können.
15 Jahre später sind es nicht mehr nur die Armen, die sich dringend nötige Medikamente nicht leisten können. Neue Medikamente für tödliche Krankheiten wie Hepatitis C und Krebs werden zu derart hohen Preisen auf dem Weltmarkt angeboten, dass selbst die reichen Länder sie rationieren müssen. Und wieder ist Jamie Love im Einsatz.

Foto: Melanie Freeman/Getty Images
2010 wird der Kampf, den Love fast sein ganzes Leben lang führt, auf einmal auch sehr persönlich. Seine Frau und Kollegin Manon Ress erhält die Diagnose Brustkrebs im vierten Stadium. Als Ress ihren Arzt fragt, wie viel Zeit ihr noch bleibe, antwortet er: „Zwischen fünf und zehn Jahren“. Daraufhin schafft sich Manon Ress einen Hund an.
Wenige Tage nach der Diagnose beginnt Ress eine Chemotherapie. Weil die Mutter und die Schwester an Krebs erkrankt sind, besteht die Möglichkeit einer genetischen Veranlagung – was die Art der Behandlung beeinflussen kann. Es dauert Wochen, bis der Test eintrifft, der Klarheit bringen kann, immer wieder verzögert sich die Lieferung. „Ich war stocksauer. Man ist total verunsichert, weil man nicht weiß, was vor sich geht. Und dann wird einem klar, dass Manon den Test nur deshalb nicht viel früher bekommen hat, weil er verdammt noch mal so viel kostet. Der Test ist eigentlich einfach und günstig durchzuführen. Was ihn so teuer macht, ist einzig das Patent. Es ist verrückt.“
Ress’ aggressiver Krebs reagiert eine Zeit lang auf das Medikament Herceptin. Als es nicht mehr anschlägt, verschreibt man ihr T-DM1, vertrieben vom Schweizer Pharmariesen Roche unter dem Namen Kadcyla.„Ich nehme es alle drei Wochen“, sagt Manon Ress. „Es hat sehr wenige Nebenwirkungen – trockene Augen, trockener Mund, Gelenkschmerzen.“ Im Vergleich zur Chemotherapie ist das harmlos. Und vor allem wirkt Kadcyla gleich. „Drei Tumore sind sofort verschwunden. Einer ist noch da, auf der Lunge, aber auch der wird kleiner.“ Weil ihre Krankenversicherung zahlt, kann Ress leben.
Eine Frage des Glücks
Eigentlich wollte Ress nicht über ihre Krankheit sprechen. Doch dann ist ihr klargeworden, dass der Kampf gegen Ungerechtigkeiten in der Medizin nur mit öffentlichen Aktionen erfolgreich sein kann. „Ich finde es einfach nur empörend, dass manche Frauen dieses Medikament nicht bekommen. Und dass es davon abhängt, wo man geboren ist – eine Frage von Glück oder Zufall.“
Manon Ress’ Kampf ums Überleben verändert Jamie Loves Perspektive. Jahrelang hat er sich auf Medikamente konzentriert, bei denen das Patent bald abläuft – und die zu diesem Zeitpunkt bald zwei Jahrzehnte auf dem Markt waren. Doch jedes Jahr kommen neue, effektivere Krebsmedikamente in den Handel. Love wird klar, dass er sich im Interesse von Kranken wie Manon Ress für einen besseren Zugang zu neu zugelassenen Arzneimitteln einsetzen muss.
Jamie Love hat nie im Gesundheitswesen gearbeitet. Sein Kreuzzug für den Zugang zu bezahlbaren Medikamenten entsteht aus der frühen Einsicht, dass das Profitstreben großer Konzerne den Armen schadet. Nach der Schule geht er aus seiner Heimatstadt Bellevue an der US-amerikanischen Westküste nach Alaska und arbeitet in der Fischerei. Die Ungleichbehandlung der philippinischen Arbeiter dort weckt seinen Gerechtigkeitssinn. Im Spätsommer 1974 gründet er die Alaska Public Interest Research Group und wirbt bei Ölunternehmen dafür, mit einem Teil ihrer Einnahmen die Gemeinden vor Ort finanziell zu unterstützen. Als seine Kampagnenarbeit sich immer mehr ausweitet, verspürt Love, der nur über einen Highschool-Abschluss verfügt, das Bedürfnis, doch noch zu studieren. Mit der Empfehlung des Gouverneurs von Alaska wird er gleich zu einem Master-Programm in öffentlicher Verwaltung an der John F. Kennedy School of Government in Harvard zugelassen. Danach wechselt er für ein Promotionsstudium nach Princeton.
Seine erste Frau, eine Künstlerin, hat Love in Alaska kennengelernt, mit ihr hat er einen Sohn. Nach ihrer Scheidung lebt er in Princeton allein mit dem Vierjährigen. Eine seiner Nachbarinnen in dem Gebäude, das die Universität Studenten mit Familien zur Verfügung stellt, ist eine junge, alleinerziehende Französin mit einem ebenfalls vierjährigen Sohn: Manon Ress.
Neue Mittel, hohe Preise
Der Fortschritt der Medizin hat einen Preis. Und dieser ist in den vergangenen Jahren rapide gestiegen. 2015 brachten Pharmakonzerne eine Reihe von Medikamenten auf den Markt, die alle bekannten Preisgrenzen sprengten. Ein oft zitiertes Beispiel ist Sofosbuvir, ein Mittel gegen Hepatitis C. Eine einzige Pille kostet 637 Euro, eine zwölfwöchige Behandlung mit Sofosbuvir 53.566 Euro. Zahlreiche neue Krebsmittel haben ebenfalls exorbitante Preise. In den USA, wo viele mit einem begrenzten Krankenversicherungsschutz weiterführende Behandlungen selbst zahlen müssen, haben Krebsmediziner daher eine Skala entwickelt, die Patienten über finanzielle Nebenwirkungen der neuen Medikamente aufklären soll.
In Deutschland sind die Kostenfragen weitgehend an Experten delegiert. Bekommt ein Medikament seine Zulassung, begutachten Wissenschaftler seinen Zusatznutzen im Vergleich zu den bisherigen Mitteln. Der Gemeinsame Bundesausschuss von Krankenkassen, Ärzten und Kliniken einigt sich dann aufgrund dieser Gutachten mit den Pharmaunternehmen auf einen Preis. Kommt es zu keiner Einigung, greift eine Schiedsstelle ein. Vor dieser drohen Pharmaunternehmen mitunter auch, dass sie ihr Medikament wieder vom deutschen Markt neh men, wenn sie ihre Preisvorstellung nicht durchsetzen können. Jan Pfaff
1990 beginnt Love am Center for Study of Responsive Law zu arbeiten, einer gemeinnützigen Verbraucherschutzorganisation, die von Ralph Nader gegründet wurde. Love konzentriert sich auf das Recht an geistigem Eigentum. 1995 startet er das Consumer Project on Technology, das heute den Titel Knowledge Ecology International trägt. Er untersucht Microsofts Monopolstellung auf dem Markt für Webbrowser. „Ich war der Einzige in unserem Büro, der wirklich Ahnung von Technik hatte, also nahm ich die Sache in die Hand und fühlte Microsoft ein Jahr lang auf den Zahn“, erzählt er. „Deswegen habe ich bis heute so ein schlechtes Verhältnis zu Bill Gates.“ Jahre später geraten die beiden wegen des Zugangs zu Medikamenten aneinander. Gates, der Millionen in die Forschung nach Impfstoffen investiert, ist ein entschiedener Befürworter von Patenten. Seiner Meinung nach schaffen sie für Unternehmen erst die nötigen Anreize, neue und bessere Medikamente herzustellen.
Die Pharmaindustrie hat eine sehr simple Rechtfertigung dafür, für neue Wirkstoffe hohe Preise zu verlangen: Es kostet viel Geld, ein Medikament zu entwickeln und es auf den Markt zu bringen, also müssen die Preise hoch sein. Andernfalls wären die Unternehmen nicht in der Lage, ihre Forschungs- und Entwicklungsarbeit fortzusetzen.
Mit öffentlichen Geldern
Die Zahlen, die die Branche für gewöhnlich anführt, stammen vom Tufts Center for the Study of Drug Development in Boston, Massachusetts. Es bezeichnet sich selbst als unabhängige Einrichtung, obwohl es sich zu 40 Prozent aus Spenden der Pharmaindustrie finanziert. Jamie Love und andere Aktivisten zweifeln die Zahlen des Tufts Center an. Viele Präparate entstehen ihrer Meinung nach im Kopf von Wissenschaftlern. Jemand hat eine gute Idee und geht ihr nach. Oft wird diese wissenschaftliche Forschung aber mit öffentlichen Geldern finanziert. Sieht ein Projekt nach den ersten, grundlegenden Tests vielversprechend aus, wird das Präparat verkauft, häufig an ein kleines Biotech-Unternehmen.
Die großen Pharmakonzerne haben ihre eigenen Laborantenteams, aber die größten von ihnen erwerben immer mehr Medikamente, indem sie kleinere Biotech-Unternehmen mit vielversprechenden Präparaten im Schrank aufkaufen. Aktivisten argumentieren, dass die eigentliche Forschungsarbeit, die die Pharmariesen leisten, weitaus geringer ausfällt, als diese behaupten. Selbst da, wo ein Unternehmen ein Medikament selbst entwickelt hat, seien es andere Faktoren, die den Preis in die Höhe trieben. So würden die Kosten für die Entwicklung all jener Medikamente, die sich in der Versuchsphase nicht bewährt haben, mit einkalkuliert. Aber vor allem würden die teils immensen Kosten für Werbung und Marketing so wieder reingeholt.
1994 beginnt Love damit, die Kostenberechnung der großen Konzerne in Frage zu stellen. Er macht sich schnell einen Namen im Kampf gegen „Big Pharma“. Seine Ausätze, Vorträge und Online-Postings werden auf der ganzen Welt immer öfter aufgegriffen. 1998 setzt sich Bernard Pécoul, Geschäftsführer von Médecins Sans Frontières, mit ihm in Verbindung. Eine mächtige Allianz gegen die Pharmaindustrie nimmt langsam Gestalt an.
Im Jahr 1998 sterben in Südafrika mehr Menschen an der Immunschwächekrankheit Aids als in irgendeinem anderen Land. Doch trotz der dramatischen Lage reichen Ende des Jahres rund 40 Pharmaunternehmen in Pretoria eine Sammelklage ein, um der südafrikanischen Regierung juristisch zu verbieten, billigere Medikamente aus dem Ausland zu beziehen. Die Konzerne fahren an juristischer Expertise auf, was sie bekommen können. Drei Jahre dauert die Auseinandersetzung. Millionenbeträge werden in einen Rechtsstreit investiert, dessen einziges Ziel es ist, den Armen im Namen des Profits die medizinische Behandlung zu verwehren.
Als es zu internationalen Protesten kommt, lassen die Unternehmen die Klage schließlich fallen. Aber ihr Image hat bleibende Schäden davongetragen. Anti-Aids-Aktivisten in Europa und den USA werfen den Big Pharma vor, sie würden über Leichen gehen. Es ist ein Wendepunkt für Love und seinen Kampf für bezahlbare Medikamente. Ihm wird klar, dass er sich bei seiner Kampagne auf Aids-Medikamente konzentrieren muss, wenn er sein Ziel erreichen will, dass auch arme Menschen eine umfassende medizinische Versorgung erhalten: Nach dem skandalösen Verhalten der Pharmakonzerne in Südafrika ist die öffentliche Meinung auf seiner Seite. Schließlich geht es um das Leben von vielen hunderttausend Menschen.
Den Weg, um die Arzneimittelpreise für die Armen zu drücken, sieht Love in Zwangslizenzierungen. Die Idee ist einfach: Der Besitzer des Patents muss es zur Verfügung stellen. Er erhält dafür eine Entschädigung, die sich aber nicht an den möglichen Profiten orientieren soll, sondern wesentlich niedriger liegt. Zunächst stößt seine Idee auf Widerstand. „Zwangslizenzierung galt lange als eine Methode, die wir nie anwenden würden“, sagt Ellen ‘t Hoen von der Organisation Health Action International. Möglicherweise würde so etwas gegen geltendes Recht verstoßen; ganz sicher würde es die geballte juristische Streitmacht der Konzerne auf den Plan rufen. Love ist das egal. Er ist fest entschlossen, es mit den Giganten aufzunehmen.
Im März 1999 organisiert Loves Consumer Project on Technology ein Treffen von 60 Gesundheitsorganisationen und Nichtregierungsorganisationen im Palais des Nations in Genf. Thema: die Zwangslizenzierung als Mittel, Medikamente denjenigen zur Verfügung zu stellen, die sie brauchen, sie sich aber nicht leisten können. Der Medikamentenhersteller Merck wird das Treffen später „Bootcamp zur Zerschlagung von Patenten“ nennen. Aber das Treffen sprüht vor Leidenschaft und Begeisterung. Vertreter des US-amerikanischen Patentamtes sowie verschiedener Pharmaunternehmen sind gekommen, Abgeordnete der Europäischen Kommission und der Welthandelsorganisation WTO, Aids-Aktivisten – alle, die das Thema angeht, wollen erfahren, ob und wie die Idee von der Zwangslizenzierung praktisch funktionieren könnte.
Als die Aktivisten ihre Forderungen ausformuliert haben, werden sie von der Weltgesundheitsversammlung (WHA) angenommen und als Resolution verabschiedet. Das höchste Entscheidungsgremium der Weltgesundheitsorganisation WHO tritt einmal jährlich zu einer Konferenz zusammen, in der alle 194 Mitgliedsstaaten vertreten sind. Die WHA unterstützt nicht nur die Forderung nach Zugang zu bezahlbaren Medikamenten, sondern insbesondere Zwangslizenzen.
Als Yusuf Hamied Jamie Love und den Rest der Gruppe im August 2000 trifft, erzählt er ihnen, dass er die einzelnen Medikamente, die für die Behandlung von Aids-Patienten benötigt werden, bereits herstellt. Er ist darauf vorbereitet, die Präparate für wenig Geld abzugeben, will aber sichergehen, dass sie ihm auch jemand abkauft. Als er 1991 eine kostengünstige Version des ersten Aids-Medikaments AZT hergestellt hatte, musste er 20.000 Packungen wieder wegschmeißen, weil die indische Regierung nicht über die finanziellen Mittel verfügte, sie zu kaufen. Obwohl sie nicht mehr als zwei Dollar pro Tag kosteten.
Nun will Hamied, dass ihm seine Gäste dabei helfen, Abnehmer zu finden. Er wartet wochenlang, dass sich jemand meldet, doch die Anrufe, die er von den Regierungen HIV-geplagter Länder oder Hilfsorganisationen erwartet, um das Medikament Triomune zu bestellen, bleiben aus. „Eines Tages, am 6. Februar 2001“, erzählt er, „als ich schon völlig verzweifelt war, weil sich immer noch kein Interessent gemeldet hatte, ruft Jamie mich aus den USA an und sagt: ‚Ich habe eine Idee: Kannst du den Preis für das Mittel unter einen Dollar pro Tag drücken?‘“ Hamied willigt ein. Damit ist das Aids-Medikament auch für Entwicklungsländer erschwinglich. Love hat gewonnen, doch er hat sich auch Feinde gemacht, die nicht aufhören, um die Rechte an ihrem geistigen Eigentum zu kämpfen.
Nach der Erkrankung seiner Frau fragt Jamie Love bei Herstellern von Generika nach, ob sie nicht eine Version von Kadcyla produzieren könnten. Er trifft sich mit Vertretern eines argentinischen Unternehmens, das auch in Spanien produziert. Die Herstellung von Wirkstoffen wie T-DM1 ist ziemlich kompliziert, einiges an Forschungsarbeit ist erforderlich. Der Schweizer Pharmagigant Roche bringt Kadcyla im Februar 2014 in Großbritannien für einen Listenpreis von mehr als 100.000 Euro auf den Markt – die Durchschnittskosten für die Behandlung eines einzelnen Patienten für zwölf Monate. Versuche haben gezeigt, dass der Wirkstoff das Leben von Frauen bei fortgeschrittenem Brustkrebs um mindestens sechs Monate verlängert. Doch das National Institute for Health lehnt den Wirkstoff ab. Es entscheidet darüber, ob Medikamente kosteneffizient genug sind, um im britischen Gesundheitssystem National Health Service (NHS) verwendet zu werden. Der Cancer Drugs Fund, den die Regierung gegründet hat, um Geld bereitzustellen, wenn lebensverlängernde Medikamente als zu teuer eingestuft werden, übernimmt bis April 2015 die Kosten. Dann erklärt der NHS aber, man werde Kadcyla wieder von der Fund-Liste nehmen.
Für Love ist das ein schwerer Rückschlag, er sieht mit dieser Entscheidung die Chance schwinden, das Medikament in einem wohlhabenden Land zu einem günstigen Preis zugänglich zu machen; eigentlich wollte er damit einen Präzedenzfall schaffen. Love und Ress kontaktieren die britischen Organisationen, die sich dem Kampf gegen Brustkrebs widmen. Dann wagen sie ihren großen Schritt. Gesundheitsminister Jeremy Hunt erhält einen Brief von der „Coalition for Affordable T-DM1“, einer Gruppe, die Jamie Love und Manon Ress zusammengebracht haben. Ärzte, Patientinnen und Aktivistinnen sind in ihr zusammengeschlossen. Der Brief schlägt vor, Hunt solle den Patentschutz für Kadcyla aufheben und die Herstellung oder Einfuhr eines günstigen Generikums erlauben. Nach dem britischen Patentrecht ist es der Regierung möglich, sich über das Patent von Roche hinwegzusetzen und eine Zwangslizenz zu vergeben, wenn es dem Unternehmen eine „erschwingliche Kompensation“ zahlt. Love hat eine Hintertür gefunden und lädt die Regierung ein, hindurchzugehen. Auch damit wäre ein Präzedenzfall geschaffen.
Regierung in der Zwickmühle
Chris Redd, Arzt und Forscher am Peninsula College of Medicine in Plymouth und einer der Unterzeichner, glaubt, der Vorschlag ermögliche es der Öffentlichkeit, die Regierung zur Verantwortung zu ziehen: „Gegenwärtig gibt es hierzulande 1.500 Frauen, die Brustkrebs haben und durch dieses Medikament am Leben gehalten werden könnten. Die Lösungen sind alle da. Die einzige Frage ist, was der Regierung wichtiger ist: die Interessen der Patientinnen oder die der Aktionäre eines multinationalen Pharmakonzerns.“
Love ist nicht so naiv, zu glauben, die Regierung habe nur auf einen wie ihn gewartet. Für eine konservative Regierung, die grundsätzlich der Pharmaindustrie und den Idealen eines freien Marktes nahesteht, ist Loves Initiative überaus problematisch. Gleichzeitig stecken die Konservativen aber auch in der Klemme, denn die Regierung kann die hohen Kosten lebensverlängernder Medikamente, die die Patientinnengruppe fordert, nicht tragen.
Im November erklärt der englische NHS, Kadcyla werde auf der Liste des Cancer Drugs Fund bleiben, weil Roche nach langen Verhandlungen zugestimmt hat, den Preis zu senken – auch wenn nicht mitgeteilt wird, um wie viel. Das Medikament sei aber immer noch zu teuer, um allgemein im NHS eingesetzt zu werden. Während der Fonds also für Patientinnen in England zahlen würde, könnten andere in Wales oder Schottland leer ausgehen.
Die britische Regierung ist noch immer dabei, Loves Vorschlag zu prüfen. Er engagiert sich unterdessen weiter, reist nach Rumänien, drängt die dortige Regierung, eine Zwangslizenz für ein neues Medikament gegen Hepatitis C einzuführen, deren Behandlung angesichts von einer Million Infizierter das Gesundheitssystem sonst in den Ruin treiben könnte. Ress reist zwischen ihren Krankenhausaufenthalten mit ihm nach Genf, wenn er sie braucht – und wenn sie kann. In der Zwischenzeit geht sie mit dem Hund spazieren. „Ich bin mir nicht sicher, ob mein Onkologe weiß, dass Hunde sieben oder acht Jahre alt werden“, sagt sie mit trockenem Humor. „Aber ich werde noch lange genug leben, um ein weiteres Enkelkind zu erleben – und eine weitere Resolution der Weltgesundheitsversammlung.“
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