Kampf um die Allerkleinsten

Frühgeborene Ein Landessozialgericht entscheidet zugunsten der Kliniken, die zwar wenige Fälle versorgen, aber trotzdem weiter Frühchen behandeln wollen. Experten verstehen das nicht

Einen bösen Rückschlag erlitten vergangene Woche die Befürworter einer Mindestmengen-Regel für die Versorgung von Frühgeborenen.

Seit Jahren kämpfen Ärzte und Geburtshelfer in Deutschland dafür, dass Frühchen nur noch in Kliniken behandelt werden, die eine bestimmte Mindestzahl an Fällen und damit die nötige Expertise vorweisen können. Zum 1. Januar sollte nun eine Regelung in Kraft treten, die diese Mindestmenge auf 30 festsetzte. Doch das Berliner Landessozialgericht kippte die Vorschrift des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA): Kliniken mit weniger als 30 Fällen, die gleichwohl gute Arbeit leisteten, würden zu stark benachteiligt.

Denn die Versorgung eines Frühchens bringt einem Krankenhaus bis zu 100.000 Euro. Dutzende von Kliniken haben deshalb gegen die Mindestmenge geklagt. Der Vorsitzende des GBA Rainer Hess sagt im aktuellen Spiegel, das Urteil habe ihn kalt erwischt: "Überraschenderweise" sei das Urteil "so kritisch" ausgefallen. Er finde gleichwohl, es gebe "zumindest deutliche Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen Leistungsmenge und Überlebenschance", sagt Hess: "Meine persönliche Meinung dazu ist: Wenn es um die Schwächsten, also in diesem Fall die Frühchen geht, dann muss auch mal eine vergleichsweise dünne wissenschaftliche Basis für eine Entscheidung ausreichen."

Klaus Vetter hat sich schon als Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe wie der Deutschen Gesellschaft für Perinatale Medizin für Mindestmengen eingesetzt. Er kann nicht verstehen, wie das Gericht zu seinem Urteil kam. Er kommentiert für den Freitag:

Kranke und kleinste Frühgeborene benötigen die bestmögliche Medizin, um gesund zu überleben. Da sie nur gut ein Prozent aller Neugeborenen darstellen, kann eine adäquate Behandlung in gut ausgerüsteten Kliniken für Neugeborenenmedizin mit optimal trainierten Teams nicht überall vorgehalten werden. Es macht keinen Sinn – und dies ist auch wissenschaftlich belegt – von einer gelegentlichen Versorgung optimale Ergebnisse zu erwarten. Dennoch können Schwangere mit Hochrisikoschwangerschaften in Deutschland – im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern, wie etwa Portugal – nicht automatisch davon ausgehen, dass sie in der für sie optimalen Klinik behandelt werden.

Dafür gibt es verschiedene Gründe:

1. Niemand reguliert bislang, welcher Klinik Risikoschwangere und Risikoneugeborene zugeordnet werden. Denn bisher wurden die dafür vorgesehenen Gelder niemandem vorenthalten, der eine entsprechende Behandlung übernommen hat, auch wenn keine optimale Therapie angeboten werden konnte.

2. Es gibt keine Transparenz für Patientinnen, wo die für sie optimalen Behandlungen vorgehalten werden.

3. Nun wurde auch noch der Versuch des Gemeinsamen Bundesausschusses letzte Woche juristisch ausgebremst, das Zuordungschaos dadurch zu ordnen, dass Behandlungs-Mindestmengen vorgegeben wurden.

In den meisten westlichen Ländern geht man davon aus, dass eine Behandlung von wenigstens einem Kind von weniger als 1500 Gramm Geburtsgewicht pro Woche stattfinden sollte, um eine angemessene Erfahrung im gut trainierten Team vorzuhalten. In Portugal etwa wurden geburtshilfliche Kliniken so zusammengelegt, dass keine weniger als 1.500 Geburten aufweist. Dies hat unter anderem dazu geführt, dass die Ergebniszahlen nun zu den besten weltweit gehören.

Nach Einführung des Finanzierungssystems über Diagnosen (DRG) im Jahr 2005 mit hohen Preisen für die Behandlung kleinster Frühgeborener ist die vorher wenigstens teilweise strukturierte Versorgung im Rahmen von Krankenhausplänen auf Länderebene unterlaufen worden – in Berlin wurde sogar dagegen geklagt.

Nicht unbegründet musste man beim Anblick der Zahlen von „Gelegenheitsversorgung“ sprechen, wenn eine nicht unerhebliche Zahl von Kliniken weniger als fünf Kinder aus dem Hochrisikobereich im Jahr behandelten. Um dieser fatalen Entwicklung gegenzusteuern, wurde nach Erstellung eines wissenschaftlichen Gutachtens durch das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen 2009 das Konzept der Behandlungs-Mindestmengen mit einer Zahl von 14 Hochrisiko-Kindern pro Jahr eingeführt – also einem Kind pro Monat statt einem pro Woche wie in anderen Ländern. Nach diversen Diskussionen wurde diese Zahl im Jahr 2010 auf 30 erhöht. Doch statt der Umsetzung setzte nun ein Gerichtsentscheid diesen Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses – zumindest vorübergehend – außer Kraft.

Somit hat ein Richter den Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses im Sinn einer Optimierung der Versorgung von Risikoneugeborenen ausgehebelt. Und wir müssen in diesem Land weiter mit suboptimalen Bedingungen für die kleinsten Hochrisikopatienten leben.

Es steht unter diesen Umständen zu hoffen, dass die Selbsthilfe durch Kenner der Patienten- und Behindertenverbände für Transparenz im Dickicht der unterschiedlichsten Interessen sorgen mögen, wenn es die eigentlich dafür Zuständigen nicht schaffen.

Klaus Vetter (64) ist Chefarzt der Klinik für Geburtsmedizin am Vivantes Klinikum Berlin-Neukölln und lehrt auch an der Humboldt-Universität in Berlin. Von 2004 bis 2006 war er Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, von 2005 bis 2007 Präsident der Deutschen Gesellschaft für Perinatale Medizin.

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