Kampfstark nur im Kleinen

Streik Die Lokführer von der GDL sind mutig. Aber auf viele allgemeinpolitische Fragen haben Spartengewerkschaften leider keine Antwort
Ausgabe 46/2014
Alle reden vom Wetter. Er nicht.
Alle reden vom Wetter. Er nicht.

Illustration: der Freitag; Material: Thomas Lohnes/Getty Images

Künstler und Arbeiter gemeinsam gegen TTIP: Diese und ähnliche Schlagzeilen gingen kürzlich durch die Medien. IG-Metall-Vorsitzende Detlef Wetzel und der Präsident der Akademie der Künste, Klaus Staeck, waren in Berlin vor die Presse getreten, um gemeinsam gegen das geplante Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und den USA zu protestieren. Die Metaller sehen Arbeits-, Sozialstandards und Umweltschutzstandards gefährdet, die Künstler fürchten um Filmförderung und Buchpreisbindung. Unterschiedliche Schwerpunkte – doch das gemeinsame Interesse wiegt so stark, dass sich beide Organisationen zusammentun – „wohl das erste Mal in dreihundert Jahren“, wie Staeck bemerkte.

Dass man zu großen gesellschaftspolitischen Fragen Stellung bezieht, ist für die meisten Mitgliedsorganisationen des Deutschen Gewerkschaftsbundes selbstverständlich. Verdi fordert eine stärkere Besteuerung privaten Reichtums, die GEW fordert eine Gemeinschaftsschule nach skandinavischem Vorbild, die Lebensmittelgewerkschaft NGG einen gesetzlichen Schutz für Whistleblower. Und niemand kämpfte so ausdauernd und vehement gegen die Rente mit 67 wie die IG BAU.

Unsolidarische Egoisten?

Bei Berufs- oder Spartengewerkschaften findet man solche Töne nur selten. Sicher: Die Lokführer der GDL, die Fluglotsen der GdF, die Klinikärzte im Marburger Bund, die Flugbegleiter von UFO und die Piloten von Cockpit haben in den vergangenen Jahren erfolgreiche Arbeitskämpfe geführt. Sie haben neuen Schwung in die hierzulande wenig entwickelte Streikkultur gebracht und damit auch den Erneuerungsbemühungen innerhalb der DGB-Gewerkschaften Rückenwind geliefert – auch wenn deren Funktionäre das nur ungern und hinter vorgehaltener Hand einräumen. Doch so kampfstark die neuen Berufsgewerkschaften im Kleinen sind: Auf Fragen, die über die unmittelbaren Interessen der eigenen Klientel hinausgehen, haben sie meist keine Antwort oder sie stellen die Fragen erst gar nicht. Da herrscht bemerkenswerte Funkstille.

Dies ist ein Punkt, der vielen Gewerkschaftern aus der linken, sozialistischen und sozialdemokratischen Tradition Unbehagen bereitet – trotz aller Sympathie, ja Begeisterung für den Kampf der Lokführer. Tagelang streikte die GDL, legte den Bahnverkehr lahm, war mutig, zeigte der Bevölkerung, was Arbeitskampf bedeuten kann. Und trotzdem: Man merkt, dass etwas fehlt. Sind es die Ressourcen, ist es eine Art politisches Gen, oder ist es einfach das fehlende Interesse für die Probleme anderer Beschäftigter? Sind Lokführer, Fluglotsen, Stewardessen am Ende doch unsolidarische Egoisten, die nur für sich herausschlagen wollen, was sich herausschlagen lässt – solange ihr Laden noch läuft?

Eine einfache Antwort auf diese Fragen gibt es nicht – und zwar schon deshalb, weil die Organisationen, die unter dem Begriff der Berufs- oder Spartengewerkschaften zusammengefasst werden, sehr unterschiedlich sind. Während Cockpit und der Marburger Bund echte Besserverdiener-Gewerkschaften sind, kann man dies von der GDL, der Unabhängigen Flugbegleiterorganisation UFO und der im Zuge der Weltwirtschaftskrise 2008 entstandenen Hafenarbeitergewerkschaft Contterm nicht behaupten. Auch die Bemühungen der Gewerkschaft der Flugsicherung, höhere Löhne nicht nur für die vergleichsweise hoch bezahlten Tower-Lotsen, sondern auch für das Vorfeldpersonal der Flughäfen zu erkämpfen, passen nicht in das Bild des unsolidarischen Berufsverbands. Gleiches gilt für das aktuelle Eintreten der GDL für die Zugbegleiter und Bordbistro-Mitarbeiter. Im Gegenteil: Sie stehen in der besten Tradition der Arbeiterbewegung, die besagt, dass die Starken den Schwachen unter die Arme greifen.

Dass das gesellschaftspolitische Engagement bei den meisten dieser Organisationen kaum entwickelt ist, hat zum Teil historische Gründe: Als der GDL-Chef Claus Weselsky im Jahr 2010 gefragt wurde, warum seine Organisation am 1. Mai nicht auf der Straße sei, antwortete dieser: „Das hat keine Tradition in unserer Gewerkschaft.“ Wie sollte es auch: Bis vor zwei Jahrzehnten waren Lokführer noch überwiegend Staatsbeamte und dem Weisungsrecht ihres Dienstherrn unterworfen. Erst mit der Bahnreform von 1994, die die ehemalige Bundesbehörde in eine Aktiengesellschaft umwandelte, wurden sie nach und nach zu abhängig Beschäftigten mit Streikrecht.

Das Grundgesetz verteidigt

Der entscheidende Schub kam übrigens aus dem Osten, denn die Lokführer der ehemaligen Reichsbahn der DDR – Weselsky ist einer von ihnen – wurden erst gar nicht verbeamtet. Andere Berufsgewerkschaften wie die GdF oder UFO waren echte Neugründungen. Sie haben gar keine Tradition und hatten verständlicherweise zunächst dringendere Aufgaben zu lösen, als Positionen zu allgemeinpolitischen Fragen zu entwickeln.

Ob dies so bleiben muss, ist keineswegs ausgemacht. Auch wenn die Berufsgewerkschaften der Lokführer, Fluglotsen, Piloten, Stewardessen und Klinikärzte sich in den vergangenen Jahren vor allem auf ihr tarifpolitisches Kerngeschäft konzentrierten, wurden ihre Kämpfe – ob sie es wollten oder nicht – fast immer zwangsläufig politisch. So erstreikte die GDL in den Jahren 2007 und 2008 nicht nur einen eigenen Lokführertarifvertrag mit einer Lohnsteigerung von elf Prozent, sondern stoppte faktisch auch die schon geplante Privatisierung der Deutschen Bahn – das war, wie man aus heutiger Sicht sagen kann, der Anfang vom Ende der neoliberalen Privatisierungsträume. Damit nicht genug: Im Jahr 2008 rückte auch die große DGB-Bahngewerkschaft Transnet von ihrer jahrelangen Unterstützung der Börsenpläne ab. Zufall?

Claus Weselsky, der „meistgehasste Deutsche“

Den längsten Streik in der Geschichte der Deutschen Bahn hatte die Lokführergewerkschaft GDL angekündigt. Das versetzte nicht nur die Konzernspitze in Entsetzen, sondern offenbar auch viele Journalisten. GDL-Chef Claus Weselsky wurde runtergeschrieben und beschimpft, vor allem in den konservativen Medien.

Die Bild-Zeitung bezeichnete Weselsky als den „Größen-Bahnsinnigen“ und forderte die Leser auf, ihm „die Meinung zu geigen“. Dazu veröffentlichte die Zeitung seine Telefonnummer. Immerhin ist es nur seine dienstliche. Focus Online hatte weniger Bedenken, in die Privatsphäre des Gewerkschaftsvorsitzenden einzudringen. Die Nachrichtenseite veröffentlichte einen Artikel mit dem Titel Weselskys Altbau-Fassade: So versteckt lebt Deutschlands oberster Streikführer. Dazu gibt es ein Bild von der Fassade. Im Text finden sich weitere Hinweise auf den Wohnort und wüste Beschimpfungen: Ein „Hardliner“ sei Weselsky, der „meistgehasste Deutsche“.

Bedenken äußerte da selbst die Journalistengewerkschaft DJV, die normalerweise ihre Mitglieder in Schutz nimmt. Natürlich müsse über die Folgen des Streiks für Bahnreisende informiert werden. Das sollte aber nicht zu „Stimmungsmache“ führen. Weselsky dürfe nicht als Privatperson an den Pranger gestellt werden. Wie der Gewerkschaftsboss wohne, sei irrelevant für die Meinungsbildung.

Die Klinikärzte des Marburger Bundes, denen von Verdi-Gewerkschaftern sicher oft zu Recht unsolidarischer Standesdünkel vorgeworfen wird, haben die große Dienstleistungsgewerkschaft zu einer offensiveren und konfliktfreudigeren Tarifpolitik an den Krankenhäusern getrieben, auch wenn das gewiss nicht ihre Absicht war. Und beim aktuellen Arbeitskampf der GDL geht es keineswegs nur um Lohnprozente, Arbeitszeit und einen Machtkampf zwischen zwei Gewerkschaften, sondern letztendlich um nichts weniger als die Verteidigung des Streikrechts und damit des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland.

Worum es allerdings nicht geht, ist die Etablierung eines vermeintlich besseren gewerkschaftlichen Organisationsmodells. Denn selbst wenn die eine oder andere Berufsgewerkschaft, gedrängt durch die innere Logik ihrer Kämpfe, politischer wird: Abseits der Defizite, die sich aus Tradition, tagesaktuellen Prioritäten oder mangelnder Sensibilität ergeben, haben Kleingewerkschaften strukturelle Beschränkungen, die sie nur schwer überwinden können. Eine wirtschaftspolitische Grundsatzabteilung, wie sie Verdi oder IG Metall haben, ein Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut, wie es die Hans-Böckler-Stiftung des DGB unterhält, kann sich eine GDL oder GdF einfach nicht leisten.

In einer Welt, in der die Wirtschaft immer vernetzter, immer globaler wird, in der neue Logistik- und Wertschöpfungsketten alte Branchengrenzen verschwimmen lassen, braucht es mehr Kooperation. Es braucht Gewerkschaften, die willens und in der Lage sind, die Interessen ihrer Mitglieder zu verteidigen, auch mit Streiks. Es braucht Gewerkschaften, die auf ihre Mitglieder hören und auf Beteiligung setzen. Und es braucht Gewerkschafter, die über den Tellerrand schauen – über den Tellerrand ihrer Berufsgruppe, ihrer Branche und ihrer Organisation.

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