Von den Rekonzentrationszonen, die die Spanier 1896 in Kuba installierten, bis hin zu Guantánamo errichteten mindestens 27 Staaten, Diktaturen ebenso wie Demokratien, Lager, in denen Menschen interniert und auf kürzere oder lange Zeit gefangen gehalten wurden. Die Zahl der in Lagern Umgekommenen ist nirgends verlässlich verzeichnet. So einmalig die Vernichtungsfabriken der Nationalsozialisten auch waren, haben sie mit allen sonstigen Lagerwelten gemeinsam, dass nur die Überlebenden Zeugnis ablegen und das Lager sicht- und erfahrbar machen können. Der Zeuge aber steht vor dem Problem: Wie lässt sich über das Unsagbare berichten?
Imre Kertész, Robert Antelme, Jean Améry oder Primo Levi haben Auschwitz in das kollektive Gedächtnis eingeschrieben. Warlam Schalamow, der in den zwanziger Jahren der avantgardistischen Dichtergruppe Junger LEF um Osip Brik angehört hatte, gebührt das Verdienst, den verdrängten GULag in diese Erinnerung zurückzuholen. Erstmals wurde er 1929 verhaftet, weil er "Lenins Testament" (die Warnung des todkranken Lenins vor Stalin) verbreitet hatte. Zwei weitere Verhaftungen folgten. Schalamow überlebte fast 18 Jahre GULag, davon 14 am Fluss Kolyma, in den Eiswüsten im äußersten Nordosten Russlands, und starb 1982 schließlich in einer psychiatrischen Klinik. Im Unterschied zu Alexander Solschenizyn, der dem GULag als erster ein literarisches Denkmal gesetzt hat, ist Schalamow in der Öffentlichkeit allerdings kaum bekannt. Zu Unrecht, wie der pünktlich zu seinem 100. Geburtstag veröffentlichte erste Band einer sechsbändigen Werkausgabe beweist, der im Rahmen einer Tagung über Das Lager als menschliche Grenzerfahrung vorgestellt wurde.
Für das Unsagbare suchte Schalamow eine Form, eine Nicht-Literatur, durch die das Lager spricht. Das hieß zunächst mit einer literarischen Tradition zu brechen, in der das Personal - wie modern oder postmodern gebrochen auch immer - sich entwickeln, zum Charakter bildet. Selbst noch im Gefängnis kann der Schreibende sich an sein Wissen, seine zivilisatorische Prägung halten, das "Andere" denken und sich als Figur entwerfen. Nicht so im Lager. Dort herrscht nur die Nichtung, die ein Narrativ verweigert. "Denken Sie daran,", ermahnt Schalamow Solschenizyn in einem Brief, "das Wichtigste: Das Lager ist eine negative Schule ... für jedermann". Innerhalb weniger Wochen zerfällt jede Zivilisation zu Staub. Der Lagerbewohner stirbt stückweise, wird zur Schaufel, zur Spitzhacke, ist (sterbendes) Werkzeug. Als solches stumpft es ab. Es denkt keinen Gedanken, der Essen, Kälte, Regen, Arbeit, Schlafen, Rauchen übersteigt. Es erfährt das Lager an eigener Haut. Kann man mit der Haut schreiben?
Man kann, wie die Workshops des zweiten Konferenztags zeigten. Denn Schalamow zwingt den Leser ins Innere des Lagers. Dort sperrt er ihn ein und löscht alles, was das Lager übersteigt. Übrig bleibt ein nacktes Leben im nackten Lager. So wie dem Häftling werden auch dem Leser jegliche Basisinformationen vorenthalten. Das wann, wo und wie bleibt im Dunkel. Selbst die Grenze zwischen Tätern und Opfern verschwimmt.
Basal wie die Existenz ist auch die Sprache. Vorrätig nur ein paar Dutzend Worte, auf Jahre hin: Die Suppe ist heiß. Die Suppe ist kalt. Zigarette? Es regnet. Es schneit. Es ist warm. Sie stehen für die Realität des vorzeitigen oder aufgeschobenen Todes. Ist die Suppe kalt und der Regen schwer, ist der Lagerbewohner dem Tod ein Stück näher. "Der Ofen heizt" verkündet: Ich habe mich vom Tod entfernt. Was in einem Moskauer Wohnzimmer banal klingt, ist in der Lagersprache ein besonderes semantisches System, eine Nichtsprache, die in die Sprache des Wohnzimmers übersetzt werden muss. Der Zeuge ist ein Übersetzer.
Auf diese Weise macht Schalamow Lager-Wörter zu Zeugnissen, die für die Situation stehen, die sie hervorgebracht haben. Das Wort dochodjaga beispielsweise bedeutet wörtlich "der Dahingehende", gemeint sind damit die sterbenden verwerkzeugten Menschen im Lager. Die Übersetzerin Gabriele Leupold, die das Werk Schalamows äußerst sensibel ins Deutsche übertragen hat, versuchte das Wort mit "Krepierling" oder "Verrecker" zu übersetzen, doch das trifft es nicht. Am Ende blieb dochodjaga stehen.
Im Duktus knapp, die Worte häufig wiederholend, schreibt Schalamow in der dem Lager eigenen Mündlichkeit. Mehrfach wiederholt er dieselbe Episode - Echo des immer gleichförmigen Lebens. Er wechselt innerhalb eines einzigen Satzes den Tempus, von der Gegenwart in die Vergangenheit und wieder zurück: Gestern und Heute sind im Lager ununterscheidbar geworden. Wenn er willkürlich von der ersten in die dritte Person übergeht, verdoppelt er den todgeweihten Häftling zu einem Zeugen - Schalamow -, der überleben wird.
Schalamow kargt sein Zeugnis aus, bis an den Rand der Nichtsprache. Aber nicht weiter. Er will verstanden werden, schließlich ist das Zeugnis der Sinn des Schreibens. Doch wenn man aus dem Innern des Lagers schreibt, kann jede sprachliche Überhöhung, jede Emotion, jede Metapher zum Verrat an der Wahrhaftigkeit werden. Bei Schalamow herrscht striktes Metaphernverbot - mit einer Ausnahme, dem Stern, der eine Lagermetapher ist. Die "Sprache der Sterne" nimmt der Häftling wahr im Geräusch, wenn die Luft auf minus 60 Grad Celsius absinkt (und den Speichel beim Spucken gefrieren lässt). Erlaubt hat sich Schalamow außerdem das Dante-Motiv, mit dem er, wie schon Solschenizyn, das Lager in den zehnten Kreis der Hölle verweist. Und den Feuer-Gott, der im Barackenofen wohnt - Topos für die Rückkehr zu primitiven Verhältnissen. Mehr nicht.
Es war eben Solschenizyn, der Schalamow vorwarf, die Individuen zu zertrümmern, indem er sie in einen Strich verwandle, den das Lager benutzt. Man kann dies nur als Kompliment lesen, denn dann hätte Schalamow die adäquate Sprachform gefunden: In diesem irreversiblen Bruch der Identität liegt der Kern der Lagererfahrung. Die Grenze des Zeugnisses liegt darin, dass sie die Erschießung oder den Tod durch Arbeit, das "Verreckenlassen", nicht aber das Erschossenwerden, den Arbeits- und Hungertod selbst bezeugen kann. Dieser Abgrund bleibt auch für Schalamow nicht ausmessbar.
Der erste Band Durch den Schnee. Erzählungen aus Kolyma, Bd. 1 erschien bei Matthes Seitz, Berlin.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.