Bücher Zum 100. Geburtstag von Alfred Matusche werden dessen Dramen neu aufgelegt. Alfred wer? Eine Wiederentdeckungsreise in das Karl-Marx-Stadt der 1970er Jahre
Fragt man heute – 20 Jahre nach dem Mauerfall –, was von der DDR-Dramatik die Haltbarkeit eines Tetraeders H-Milch deutlich übertroffen habe, so sind nur wenige Namen gesetzt. Die Akademie der Künste etwa widmete dieser Tage Volker Brauns 1982 geschriebener Komödie Die Übergangsgesellschaft einen Themenabend – immerhin! Eine Neuinszenierung aber ist nicht in Sicht, und damit tendiert das Ganze doch eher zur musealen Veranstaltung. So bleiben denn als Aushängeschilder die Antipoden Heiner Müller und Peter Hacks, deren Gedenktage in regelmäßigen Abständen zur Überprüfung der Bestandsfähigkeit ihres Schaffens genutzt werden. Das Ergebnis der letzten Revision ergab, dass Müllers Zeit vorbei sei oder aber noch ga
aber noch gar nicht angefangen habe (beides ist für Müller-Adepten unbefriedigend) und dass Hacks sich am Beginn einer Renaissance befinde, die jedoch außerhalb der Frankfurter Allgemeinen Zeitung keiner so richtig wahrnehmen will, jedenfalls nicht im Theater.Wenn man aber, zumal als ahnungsloser Westmensch, insistiert und weitere Namen hören will – Müller und Hacks, das kann ja nicht alles sein! –, dann flüstern Kenner irgendwann drei Silben, die fast wie eine Geheimbotschaft daherkommen: „Ma – Tu – Sche“. Was klingt, wie eine Dramenfigur Brechts, enthüllt sich dem neugierig Nachfragenden als ein nahezu vergessener Autor (der Kindler etwa verschweigt ihn): Alfred Matusche, geboren vor 100 Jahren am 8. Oktober 1909 zu Leipzig, verstorben 1973 in Karl-Marx-Stadt, das sich heute wieder Chemnitz nennt. Das Nächste, was in Zusammenhang mit dem Namen Matusche erklingt, sind in der Regel die Wörter „Außenseiter“ und „Sonderling“. Bilder und Anekdoten drängen sich vor – ein Mann im immergleichen Lodenmantel, der mit dem immergleichen Köfferchen herumzog, hier und dort auftauchte und mit dem immergleichen Pfeifentabak die Luft verpestete, um dem Reden das Schweigen vorzuziehen. Man lauscht diesen Geschichten gerne, und natürlich wünschte man sich, in der Ecke irgendeiner verrauchten Kantine dem Schweigen eines solchen Originals zugehört zu haben – unsere Eingangsfrage indes zielte auf die Haltbarkeit der Dramatik. Ist Matusche – ein Autor, den kaum einer kennt, der so gut wie nie auf den Spielplänen erscheint und dem irgendwie der Ruch des Kauzigen anhaftet – da wirklich ein Kandidat?Der AußenseiterDer Verlag André Thiele bietet verdienstvollerweise zum 100. Geburtstag des Dichters Gelegenheit, die Probe aufs Exempel zu machen: In einer von Gottfried Fischborn herausgegebenen und kundig eingeleiteten Edition werden die zehn Dramen Matusches gesammelt zur Lektüre dargeboten. Wer danach noch nicht genug hat, kann auch noch in einer Festschrift schmökern (Das Lied seines Weges). Um das Ergebnis des Leseexperiments vorwegzunehmen: Der Eigenbrötler zeigt sich in seinen Stücken als eigenwillig genug, um sich als ein Autor nicht nur vom Rang eines Außenseiters ins Gedächtnis zu schreiben.Allein: Die Dauerhaftigkeit seines Œuvres wird sich nicht nur an der Qualität bemessen. Denn Matusches Dramen teilen mit einem Gros der DDR-Literatur die Schwierigkeit, Wirklichkeitsausschnitte zu präsentieren, deren Brücken zur Gegenwart morsch zu werden drohen. Während der Shakespeare‘sche Hofstaat mit seinen Funktionen König, Prinz, Hofschranze und einfacher Untertan oder die Ibsen‘sche Wohnstube noch immer sehr nah scheinen, sind Begriffe wie „Brigadier“, „LPG“ oder auch nur „die Partei“ für viele längst Fremdworte (oder waren es immer). Die Genauigkeit der Milieuschilderung – an sich nicht hoch genug zu schätzen – kann zum Stolperstein werden, wenn das Milieu seinen Sitz in der Gegenwart verliert. Und ein Theaterstück will nicht nur ein Geschichtsbuch sein.Der große Regisseur Fritz Marquardt hat einmal über Heiner Müllers Der Bau gesagt (ein Stück, dem – auf einer DDR-Großbaustelle spielend – ebenfalls die Problematik der Milieuvergänglichkeit innewohnt): „Das Produktionsstück interessiert einen Dreck; was interessiert, ist ein Grundvorgang. Wenn man den Bau nicht als große Metapher versteht, sondern von den Realitäten her argumentiert, macht man etwas falsch.“ Wenn man Matusches Dramen inszenieren sollte, wäre also darauf zu achten, dass man den Grundvorgängen nachspürt – falls es sie denn gibt. Und es gibt sie.Nehmen wir uns so ein Produktionsstück her, Matusches erfolgreichsten Text: Kap der Unruhe, 1968 geschrieben und 1970 am Hans-Otto-Theater Potsdam uraufgeführt. Es ist zugleich das einzige Stück Matusches, das es noch in der vergangenen Spielzeit zu einer Aufführungsserie brachte. Dem Vernehmen nach tappte die Inszenierung am Thalia Theater Halle streckenweise in die Ostalgie-Falle und erfreute sich an derb karikierten Volkspolizisten und sächselnden Arbeitern. Eine solchermaßen kabarettistische Lesart lenkt jedoch von den Metaphern ab, die der Text bereitstellt. Da ist auf der einen Seite die Stadt, „unsere neue Stadt, die große Bedürfnisanstalt unseres Lebens“, die als solche die Menschen zur Ruhe bringen soll. Die ideale Stadt als Glücksversprechen: das allerdings ist ein Thema, das mitnichten DDR-spezifisch ist – Goethe am Ende seines Faust kennt diese Utopie, und noch kürzlich haben sich Botho Strauß und Falk Richter in neuen Stücken mit den brüchigen Verheißungen der gated communities beschäftigt.Auf der anderen Seite ist bei Matusche der Kranführer Kap, der nach Abschluss der Bauphase in seiner zum Abriss bereiten Baracke haust und in der Stadt das Gefängnis künftiger Stagnation sieht. Dieser Kap – man sollte es bei einem Kranführer kaum glauben! – ist ein faustischer Wahrheitssucher, ein Unruhegeist, den es zu neuen Ufern treibt: „Das Neue ist ohne Erregung nicht das Neue. Ich will dabeisein, immer wieder.“ Und in expressionistisch gefärbter Sprache beschwört er sein Ziel: „… daß etwas aufragt, das nicht allein der Zweckmäßigkeit dient und zur Mittelmäßigkeit verführt. Nicht nur mein Kran, nicht ein Hochhaus, ein Turmgebäude, muß das Höchste sein. Es muß noch etwas sein, das aufragt, gleich einem Dom. Das muß noch geschafft werden. Rag aus Stein und Beton heraus! Du mit!“Da ist er, der Grundvorgang! Hie lockt die Bequemlichkeit des Ankommens, der Genuss am Gelungenen, der bald zur stumpfen Gewohnheit absinkt; da aber winkt das immer Neue, das ewige Wandern, das vielleicht nur ein zielloses Kreisen ist, wer weiß? Matusche gestaltet diesen Konflikt in dichten Dialogen, die Sätze fallen hart, auf knappstem Raum entfalten sich die Pointen – die naturalistisch grundierte Sprache wirkt wie in Holz geschnitten und ist durchlässig auf Büchner‘sche Wucht. Brecht dagegen – der Ur-Vater der DDR-Dramatik ist weit, weit weg. Es ist hier viel Platz für Stille, und man meint beim Lesen dem Schweiger Matusche plötzlich nahe zu sein.Der WandererMatusche hat in neun seiner zehn Dramen ähnlich eng umrissene Wirklichkeitsausschnitte wie die Baubaracke aus Kap der Unruhe gewählt. Herausgeber Fischborn hatte die sinnfällige Idee, die Stücke nicht nach ihrer Entstehungs-, sondern nach ihrer Handlungszeit zu ordnen. Auf diese Weise beginnt der Band nun mit Das Lied meines Weges, das am 30. Januar 1933, am Tag der Machtergreifung durch die Nazis spielt, schreitet fort über den Zweiten Weltkrieg (Der Regenwettermann) und die unmittelbare Nachkriegszeit im deutsch-polnischen Grenzgebiet (Die Dorfstraße), um in Kap der Unruhe oder Prognose im real existierenden Sozialismus zu enden. Matusche schreibt dabei eng an seiner eigenen Biografie entlang, weshalb die von ihm gezeichneten Milieus nie bloße Pappkulissen sind. Es entsteht so ein Panorama von 40 Jahren deutscher Geschichte in Nahaufnahmen, wobei der poetisch schräge Blick des Wanderers Alfred Matusche auch vor dem ein oder anderen dramaturgischen Knirschen nicht zurückschreckt – da darf dann schon einmal das Augenlicht eines polnischen Mädchens per Operation auf einen deutschen Wehrmachtsoffizier übertragen werden, damit später das nun blinde Mädchen den alten Preußen gleichsam das Sehen mit dem Herzen lehren kann.Nur im zehnten Stück verlässt Matusche den Rahmen seiner eigenen Lebensspanne – um ein Selbstporträt des Künstlers als Vincent van Gogh zu entwerfen. Und es ist durchaus überraschend zu erkennen, dass der van Gogh des Dramas Van Gogh im Grunde der Kranführer Kap aus Kap der Unruhe ist – und Matusche selbst. In 18 gedrängten, fast elliptisch knappen Szenen führt Matusche so historisch ungenau wie dichterisch präzise durch die Biographie des Malers. Kernsätze fallen, die Matusches Künstlertum – und nicht nur seines – charakterisieren: „Und doch bestimmen wir die Zeit. Wir sind es, die alles von ihr fordern. Die Zeit will, dass sie gefordert wird, sonst wäre sie selbst nichts.“ Oder: „Das Unbedingte verlässt nicht meine Unruhe, und es bleibt meiner Unrast Ziel.“Die ernstlich betriebene Suche nach dem Unbedingten freilich ist nicht der schlechteste Weg, um etwas Haltbares hervorzubringen. Den Van Gogh jedenfalls würde man gerne wieder auf einer Bühne sehen. Und wer sich nicht im Klein-Klein des Milieus verliert, der findet bei Alfred Matusche auch anderswo viel Stoff. Man muss ihn nur freilegen wollen.
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