Ein Kapitän weiß immer, wo sein Schiff ist – auch an Land. Jetzt, da der Kapitän Klaus Vogel in der Küche seiner Wohnung am grünen Stadtrand Berlins sitzt, hat das Schiff gerade den Hafen Trapani an der Nordküste Siziliens verlassen. Von Italien aus nimmt es Kurs auf die Gewässer vor der libyschen Küste. Die Flagge der Aquarius weht auf Halbmast, denn die Besatzung hat eine ihrer traurigsten und dramatischsten Bergungsaktionen hinter sich. Etwa 100 Menschen hat sie aus einem untergehenden Schlauchboot gerettet, es war vollgelaufen mit Wasser. Eine Bergung in letzter Sekunde und zugleich eine entsetzliche Entdeckung: 22 Leichen waren in dem Boot. Ertrunken an Bord, mitten unter all den übrigen Schiffbrüchigen.
Klaus Vogel war nicht selbst dabei. Er muss zu Hause in Deutschland alles versuchen, damit die Aquarius weiter so viele Leben wie möglich retten kann. Mehr als 2.700 sind es, seit sie im Februar ausgelaufen ist. „Jedes Schlauchboot ist von dem Moment an, in dem es ablegt, in Seenot, und die Menschen darauf befinden sich in Lebensgefahr“, sagt Vogel. Doch seinem Verein SOS Mediterranee droht das Geld auszugehen. Im Herbst könnte Schluss sein mit den privaten Hilfseinsätzen.
Die Cap Anamur
Also muss Klaus Vogel, der zuvor 300 Meter lange Containerschiffe für die Reederei Hapag-Lloyd über die Weltmeere gesteuert hat, Spenden sammeln. Potenzielle Förderer überzeugen, bei Kinovorführungen des Berlinale-Gewinnerfilms Seeufer vorsprechen, Interviews geben. Und das, obwohl Vogel am Reden merkbar weniger liegt als am Navigieren. Wann er wieder an Bord geht, ist noch unklar, er wird ja an Land gebraucht.
Nachdem Vogel das Abitur hinter sich hatte, plante er, Mediziner zu werden, verwarf das aber wegen des langen, theoretischen Studiums. Praktisch wollte er arbeiten, ein Jahr lang zumindest, und darum dachte er sich: Auf einem Schiff anheuern, das wär doch was. Kurz darauf war er mit einem Frachter nach Indonesien unterwegs, bei Hapag-Lloyd meldete sich ein Auszubildender krank, Klaus Vogel durfte einspringen und sogar selbst eine Ausbildung absolvieren. Anschließend studierte er in Bremen Nautik, wurde Kapitän und bekam eine Stelle bei Hapag-Lloyd.
Bald darauf erlebte er erstmals eine Fluchtkatastrophe mit. Er war ihr nah und zugleich fern: Als Ende der 70er Jahre hunderttausende Vietnamesen nach dem jahrelangem Krieg in ihrem Land hinaus aufs offene Meer flohen, gaben die Eigner der Handelsschiffe die Anweisung, den Küsten fernzubleiben, um den Nussschalen der Flüchtenden aus dem Weg zu gehen. Mehr als 200.000 Menschen sind damals ertrunken. „Das hat mich erschüttert“, sagt Klaus Vogel.
Wenn Staaten versagen und Spenden versiegen
Orange Schwimmwesten, die sich auf der Insel Lesbos türmten, waren vergangenes Jahr das Symbol für die gefährliche Flucht vieler Menschen gen Europa. Durch den EU-Türkei-Deal kommen nun deutlich weniger Boote über die Ägäis. Doch die Zahlen jener, die von Libyen den weitaus gefährlicheren Weg über das Mittelmeer riskieren, sind höher denn je. 300.000 Menschen erwartet Frontex in diesem Jahr.
Damit sie in nationalen Hoheitsgewässern Leben retten können, brauchen private Hilfsorganisationen eine Genehmigung der Behörden. Einige halten sich streng an die Vorschriften, andere bewegen sich in legalen Graubereichen – etwa, wenn sie ohne Absprache mit der Marine oder Küstenwache arbeiten oder sich in internationalen Gewässern bewegen, um Menschen vor dem Ertrinken zu retten. Anfang des Jahres nahmen griechische Behörden drei spanische und zwei dänische Freiwillige von Proem-Aid und Team Humanity nach einer Rettungsaktion wegen angeblichen Menschenschmuggels in Haft und ließen sie erst gegen Zahlung einer Kaution wieder frei. In ähnliche Konflikte gerieten Fischer vor der Küste Lampedusas, wo ihnen die Rettung Bootsflüchtender gesetzlich verboten ist.
Mit der gesunkenen medialen Aufmerksamkeit für die andauernde Tragöde auf hoher See lässt auch die Spendenbereitschaft nach. Daher versucht manch eine Graswurzel-Initiative, bisher bewusst informelle Strukturen zu professionalisieren, um Fördergelder beantragen zu können. Dagegen hat Ärzte ohne Grenzen aus Protest gegen den EU-Türkei-Deal entschieden, keine Mittel von der EU und den EU-Staaten mehr anzunehmen. Juliane Löffler
Damals startete Rupert Neudeck – er verstarb vergangenen Mai – seine Rettungsaktion mit der Cap Anamur, etwa 10.000 Menschen konnte die Crew retten. Die Cap Anamur gibt es nicht mehr, ihren letzten Einsatz hatte sie 2004. In jenem Jahr brachte das Schiff 37 Menschen, die es im Mittelmeer gerettet hatte, in Italien an Land, trotz des Verbots durch die Behörden. Das Schiff wurde konfisziert, der Kapitän wegen „bandenmäßiger Beihilfe zur illegalen Einreise in besonders schwerem Fall“ angeklagt und nach drei Jahren Prozess überraschend freigesprochen. Aber die Cap Anamur konnte danach nie wieder Schiffbrüchige retten.
Zehn Jahre später, im Herbst 2014, stellt die italienische Regierung ihr Mittelmeer-Rettungsprogramm „Mare Nostrum“ ein, weil sich die anderen europäischen Staaten nicht im nötigen Maß beteiligten. So häufen sich die Tragödien im Mittelmeer, bei Klaus Vogel kommen die Erinnerungen an die vietnamesischen Boat People, denen er nicht helfen durfte, zurück. „Das konnte ich nicht akzeptieren, ich musste etwas tun“, sagt er. Und er tat etwas: Vogel kündigte den Job bei Hapag-Lloyd, um im Mittelmeer einzugreifen. Ein Schritt ins Ungewisse, ein berufliches Risiko. Seine Frau und die vier erwachsenen Kinder unterstützen ihn, so gut es geht.
Vogel erzählt, wie die Männer auf den Flüchtlingsbooten versuchen, Frauen und Kinder zu schützen und sie daher in der Mitte auf dem Boden sitzen lassen. Für die Männer bleibt auf dem überladenen Schlauchboot dann meist nur ein Stehplatz am Rand. Aber die sichere Mitte wird zur tödlichen Falle, wenn das Boot leckt und Wasser eindringt. An der tiefen Stelle ertrinken die Menschen. Alle Passagiere müssen das mit ansehen, sie können nicht eingreifen, sie stehen selbst Todesängste aus. 21 der 22 in Sizilien an Land gebrachten Toten waren Frauen.
Im Mai 2015 haben Vogel und ein paar Dutzend Mitstreiter in Berlin den Verein SOS Mediterranee gegründet, inzwischen ist er auch in Frankreich und Italien ansässig, zusammen mit Ärzte ohne Grenzen stellt er die Rettungscrew der MS Aquarius. Das Schiff, das mehrere hundert Menschen aufnehmen kann, haben sie mitsamt den Seeleuten gechartert, ein Kauf war nicht zu realisieren.
Aus dem Kapitän eines Handelsschiffs ist nun also der Kapitän eines Rettungsschiffs geworden. Es ist nicht die erste Wendung im Leben von Klaus Vogel, der im September seinen 60. Geburtstag feiert. Anfang der 80er Jahre, als seine Frau zum ersten Mal schwanger war, gab er die Seefahrt auf und schrieb sich an der Universität Göttingen für die Fächer Geschichte, Volkswirtschaftslehre und Philosophie ein. Vogel wollte nicht eine Familie gründen und dann Monate fern von ihr auf dem Meer verbringen.
Mit Stipendium und Familie ging es ein Jahr nach Paris, später nach Rom, aus dem Studenten wurde ein Dozent. Am Max-Planck-Institut für Geschichte, das heute Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften heißt, promovierte Vogel und pendelte anschließend nach Berlin, ans Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, um das Phänomen Gewalt zu erforschen. Eine seiner letzten Veröffentlichungen dort trägt den Titel Wo Sprache endet: der Bericht des Anton Prätorius über die Folter und das Problem der selektiven Empathie. Jener Prätorius war ein Pfarrer, der Anfang des 17. Jahrhunderts gegen die Verfolgung und Folter unschuldiger Frauen in den sogenannten Hexenprozessen kämpfte.
Doch Vogels Verträge als Wissenschaftler waren immer nur befristet. Als der letzte nicht verlängert wurde, war er, mit Anfang 40, arbeitslos. Nach Zustimmung seiner Familie entschied er sich für eine Rückkehr auf die Schiffsbrücke. Sein alter Arbeitgeber stellte ihn wieder ein. Bis er vergangenes Jahr das Steuer wieder herumriss.
Ein Kraftakt
Klaus Vogel, der das klare Hochdeutsch seines früheren Wohnorts Göttingen und im sachlichen Tonfall eines Wissenschaftlers spricht, sagte noch im vergangenen Mai, bei der Feier zum einjährigen Bestehen des Vereins SOS Mediterranee, sie seien eine humanitäre Organisation und nicht etwa eine politische.
Tags darauf war er in der NDR-Fernseh-Talkshow 3 nach 9 zu Gast, zusammen mit Bundesjustizminister Heiko Maas. „Libyen, das ist ein einziger Ort der Gewalt. Dort haben die Flüchtlinge keinen anderen Ausweg mehr, als in die Boote zu steigen“, sagte Vogel und stellte die von ihm gegründete „Zivile und europäische Organisation zur Rettung Schiffbrüchiger“ vor. Maas sagte zu der Hilfsorganisation nichts. Als Bundesminister ist der SPD-Politiker Teil einer Regierung, die im Gegensatz zu SOS Mediterranee Flüchtlingsabwehr betreibt.
Die 22 Toten, die die Aquarius in Sizilien an Land gebracht hat, würden von den Behörden vor Ort auf verschiedene Friedhöfe verteilt und dort meist namenlos beerdigt, erzählt Vogel jetzt, und aus seinen sonst so ruhigen Sätzen klingt deutlich der Groll. Zehn Prozent der Flüchtenden auf dem Mittelmeer sind inzwischen unbegleitete Kinder, ohne Eltern auf dem Weg von Afrika nach Europa. Zerrissene Familien, Gesellschaften in Auflösung.
Wenn die Aquarius zu ihrer nächsten Mission aufbricht, bangt Vogel, es könnte schon die letzte sein. Leben retten ist teuer unter diesen politischen Umständen. 11.000 Euro an jedem einzelnen Tag, 330.000 Euro pro Monat, rechnet Vogel die Kosten vor. Die Leihgebühr für das Schiff, die Ausstattung, die Anschaffung von Schwimmwesten, Benzin, die Löhne, auch für festangestellte Mitarbeiterinnen in Berlin, die sich um Planung, Koordination, Fundraising, Buchhaltung und die Medienarbeit kümmern. Vor dem ersten Auslaufen der Aquarius hatte SOS Mediterranee eine Million Euro Spenden gesammelt. Sie sind längst aufgebraucht. Zwar flossen neue Gelder nach, aber die Reserven reichen nur ein paar Wochen im Voraus. Klaus Vogel kämpft gegen das Ende an. Er fürchtet, die Kräfte könnten nicht reichen.
Das Leben der Vogels war eigentlich zur Ruhe gekommen. Die Kinder aus dem Haus und im Beruf, kauften sie sich eine kleine Wohnung im Süden Berlins, ein paar Kilometer weiter beginnt Potsdam. Das Wasser ist nah, wenn Klaus Vogel aus seinem schön verwilderten Garten vor dem Haus tritt, ist er in wenigen Minuten an der Havel. Die Ablegestelle der Fähre hinüber zur Pfaueninsel ist nicht weit.
Jetzt steht er dort im Garten, gleich muss er zurück ins Haus, die wöchentliche Telefonkonferenz der Verantwortlichen von SOS Mediterranee aus den drei Ländern wartet. Was ist eigentlich das Schöne am Kapitänsberuf? „Das Schöne ist“, sagt Vogel, „dass man sich in direktem Kontakt mit der Natur über das Meer bewegt. Aber das Schönste an diesem Beruf ist, wenn man am Ende wieder sicher in den Heimathafen zurückkehrt.“
Auf seiner Internetseite, unter „Logbuch“, hat Vogels Verein die Rubrik „In eigenen Worten“ eingerichtet, dort erzählen gerettete Geflüchtete ihre Geschichte. Einer der jüngsten Einträge stammt von Xavier aus der Elfenbeinküste, der fürchtete, von seinem Stiefvater totgeschlagen zu werden, wenn er nicht das Land verlässt. So kämpfte er sich nach Libyen durch, suchte Schmuggler auf und stieg in ein Boot. „Das Boot war beschädigt“, berichtet Xavier. „Man konnte hören, wie Luft rauskam. Aber ich setzte mich rein. Ich hatte mich bereits entschieden, dass es besser war, auf See zu sterben, als in der Nähe von jemandem zu wohnen, der mich umbringen wird.“
„Es ist unglaublich beängstigend“, erzählt Diawoye aus Mali im Logbuch auf sosmediterranee.org. „Wenn man Glück hat, kommt man auf ein größeres Schiff, das einen aufsammelt. Aber wenn man kein Glück hat, dann stirbt man. Wir nehmen dieses Risiko auf uns, und wir müssen mit den Ergebnissen leben. Wir haben keine andere Chance.“
Klaus Vogel kann nicht fassen, dass man in Europa gegen sichere, legale Fluchtwege argumentiert, gegen humanitäre Korridore. „Gäbe es offene Grenzen, gäbe es auch keine Schlepper.“ Vogel weiß, das sind politische Forderungen, und er spricht weiter. „Für Waren“, sagt er, „existieren keine Grenzen, sie dürfen überallhin. Und Geld sowieso, das fließt zu jeder Zeit ungestört an jeden Ort der Erde. Nur Menschen dürfen nicht dorthin, wohin sie wollen. Da stimmt etwas nicht mit der Konstruktion der Welt.“
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