Karbolineum

Eisplatz In Nagold das Eiscafé Venezia hieß Eiscafé Venedig. ...

In Nagold das Eiscafé Venezia hieß Eiscafé Venedig.

Jetzt, da ich mich erinnern soll, weiß ich nicht mehr genau, ab wann gab es das Eiscafé Venedig? 1960? 1961? Es kam als Zeichen des Fortschritts, so wie die beginnende Allgegenwart des Fernsehens, der Autos und der Fünftagewoche. Neu auch das Wort Gastarbeiter und die Gastarbeiter selbst. Sie kamen aus Italien. Genau wie das Eiscafé in der Freudenstädter Straße. Davor war dort alles eng und dunkel, schiefe und bucklige Häuser, noch mit Scheuer und Stall, Winkel und Mäuerchen, ein altes Glomp, direkt an der Waldach bis zur Ankerbrücke. Klein-Venedig sagten die Erwachsenen dazu und kicherten, weil ja kaum einer von ihnen Venedig bis dahin je gesehen. Jetzt auf einmal alles hell und sauber, ein riesiger öder Busbahnhof, auf dem sich im Sommer der Asphalt wellte, weil es keinen Schatten gab und für den sie die Waldach in einem Tunnel hatten verschwinden lassen. Kiosk, Zigarettenautomat, Fahrplantafeln, Telefonzelle, Klos und ein großstädtischer Wartesaal an der einen und dem Eiscafé Venedig an der gegenüberliegenden Ecke. Im Zeitungsständer am Kiosk immer ganz vorn die National- und Soldatenzeitung mit Schlagzeilen über Frahm alias Willy Brandt. Bis dahin kannte ich Cafés nur mit Kaffee und Kuchen und Spitzendeckchen unter Glas. Das Eiscafé war innen ganz anders, kein Plüsch, kühle Pastellfarben, es gab Eisbecher. Zu Eisbechern sagte man Eisbomben (der Krieg war noch nicht lang vorbei).

Hatten sie damals auch schon eine richtige italienische Kaffeemaschine? An das Zischen und Kaffeesatz-Klopfen kann ich mich nicht erinnern. Sowieso kannte ich das Eiscafé innen nur von außen. Ein Fenster neben der Eingangstür als Schalter für das Eis in der Waffel zum Mitnehmen. Der Bollen zehn Pfennig und noch nicht so viele Sorten wie heute. Schokolade, Vanille, Erdbeer, Zitrone. Klaus Kapp behauptet, es hätte dort auch Stracciatella gegeben, aber ich bin mir nicht sicher, das hätte doch niemand aussprechen oder sich merken können. Ich konnte ja nicht einmal das Wort "Karbolineum" behalten. Das muss ungefähr im gleichen Jahr gewesen sein, als das Eiscafé nach Nagold kam. In den Sommerferien. Mein Vater setzte einen neuen Zaun um den Hennenlauf, die Pfosten aus Holz. Unten die angespitzten Teile wurden mit Karbolineum eingepinselt, damit sie nicht gleich verfaulten und er schickte mich los, beim Farben-Unger auf der Insel (gar nicht weit vom Eiscafé) Nachschub zu holen.

Ich zog los, einen Blecheimer dabei, in dem früher Honig war. Unterwegs fiel mir das Wort aus. Ich ging also über die Insel, es war heiß, und ich wusste nicht mehr, wie das hieß, was ich beim Farben-Unger kaufen sollte. Schon sah ich mich stumm dem Herrn Unger den Eimer hinhalten, hilflos mit den Schultern und für den ganzen Laden ein Gelächter. Zurück und noch mal fragen? Zu heiß! Ich hoffte auf Eingebung, dass es mir doch irgendwie plötzlich wieder in den Sinn komme. Vielleicht auch der liebe Gott. Und dann die grenzenlose Erleichterung, als ich vor einem verschlossenen Laden stand. In der Ladentür ein Schild: Betriebsferien von bis. Wie kurz und beschwingt jetzt der Heimweg, den leeren Eimer wie eine Milchkanne hin- und herschwenkend. Mein Vater fragt gleich: Und der Farben-Kiefer, warst du auch beim Farben-Kiefer in der Turmstraße? An den hatte ich nicht gedacht. Auch Betriebsferien! Schon beim Aussprechen wollte ich es selber glauben. Aber was hatte ich jetzt getan? Den eigenen Vater angelogen, die schlimmste Sünde überhaupt, schlimmer als an Karfreitag mit dem Bruder streiten beziehungsweise Fleisch essen. Mein Vater packte mich am Arm, rot vor Zorn, und schlug auf meinen Hintern ein, konnte nicht aufhören, jeder Schlag feuerte seine Wut noch mehr an, ich schrie, wir drehten uns im Kreis umeinander, ein fürchterlicher Tanz.

Und das Eiscafé Venedig. Lange hat es sich nicht gehalten. Vielleicht, dass damals Eisessen eher eine Angelegenheit von Kindern war. 1968, als schräg gegenüber der Sudkessel der Anker-Brauerei explodierte, war aus dem Eiscafé eine Schnellgaststätte geworden. Das war damals modern.

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