Kartei

Linksbündig Was hat die NSDAP-Mitgliedschaft von Walser, Lenz und Hildebrandt zu bedeuten?

Im früheren Berliner Document Center und seit 1994 im Bundesarchiv lagern elf Millionen Karteikarten der NSDAP-Mitlieder. In regelmäßigen Abständen werden die Karteikarten heute prominenter Autoren und Wissenschaftler gefunden. NSDAP-Mitglieder waren die Historiker Fritz Fischer (1908-1999) und Martin Broszat (1926-1989), der FDP-Politiker Hans-Dietrich Genscher (geboren 1927), die Literaturwissenschaftler Walter Höllerer (1922-2003), Walter Jens (geboren 1922) und Peter Wapnewski (geboren 1922). Günter Grass erzählte 2006 in seiner Autobiografie von seiner kurzen Mitgliedschaft in der Waffen-SS.

Zuletzt traf es durch eine Veröffentlichung des Bilderblattes Focus die Schriftsteller Martin Walser (Jahrgang 1927), Siegfried Lenz (1926) sowie den Kabarettisten Dieter Hildebrandt (1927). Auf den Karten steht nichts als Name, Vorname und Geburtsdatum sowie das Datum des Parteieintritts. Schon die Interpretation dieses Datums ist umstritten - denn viele Eintritte sind auf den 30. Januar (Übergabe der Macht an Hitler) oder den 20. April ("Führergeburtstag") datiert. Einige Historiker nehmen das für einen Hinweis dafür, dass lokale Nazigrößen Abiturienten beziehungsweise Flakhelfer gleich klassenweise zu Parteimitgliedern machten, ohne dass die Betroffenen dies ahnten, geschweige denn wussten. Überzeugend ist das im Falle von Siegfried Lenz. Er war seit dem 2. März 1943 auf einem Kriegsschiff und wurde am 20. April 1944 in Abwesenheit zum Parteimitglied "befördert".

Der kollektive Masseneintritt wird von anderen Historikern vehement bestritten, denn immer hätte es dazu einer schriftlichen Erklärung bedurft. Solche liegen jedoch nicht vor. So weit die Fakten. Aber was bedeuten sie?

Zunächst: Der Satz Ciceros, "was nicht in den Akten steht, gibt es nicht" gilt vor Gericht, aber nicht für Historiker, für die das, was in den Akten steht, nicht unbedingt den Realitäten entspricht und nicht selbstevident ist. Was mit den Stasi-Akten seit Jahren geschieht, dient auch der historischen Aufklärung, aber oft nur denunziatorischen Zwecken. Dasselbe gilt für das bloße Herzitieren von NSDAP-Mitgliedschaften. Wie viele Stasi-Akten geben auch diese Karteikarten nur ein verschwommenes und korrumpiertes Bild der Realität. Das räumen selbst jene Historiker ein, die den kollektiven Parteibeitritt ohne Wissen der Betroffenen als eine Rechtfertigungslegende bezeichnen. Auch für diese Historiker steht jedoch außer Frage, dass die Karteikarte die Lebensleistung von Walser, Lenz und Hildebrandt nicht tangiert. Eine Karteikarte ist so wenig ein Beleg für ein bestimmtes Handeln oder Nicht-Handeln eines NSDAP-Mitglieds wie die Notizen eines Stasi-Funktionärs über Gespräche mit "Informanten" der Wahrheit entsprechen müssen, also entsprechende Handlungen oder Nicht-Handlungen des "Informanten" belegen.

Daraus folgt zweierlei. Erstens sollten Archivare und Historiker endlich ihre Hausaufgaben machen. Sie müssen unter Berücksichtigung aller verfügbaren Quellen abklären, was eine Eintragung in die NSDAP-Mitgliederkartei tatsächlich bedeutete und wie sie zustande kommen konnte - auf Antrag und individuell oder auch ohne und kollektiv. Es ist schon seltsam, dass quellenkritische Minimalanforderungen im Umgang mit Stasi-Akten wie mit Akten der NSDAP-Mitgliederkartei nicht erfüllt werden. Dies allein erzeugt den Wind für Skandalisierungen im Eigeninteresse einschlägiger Medien und für gezielte Denunziationen.

Gefordert sind aber auch - zweitens - die ehemaligen NSDAP-Mitglieder. Sie müssen sich drei Fragen stellen lassen: Haben Sie das Faktum der Mitgliedschaft gekannt, was allein kein "ehrenrühriges Moment darstellt" - so der Historiker Michael Buddrus? Oder haben Sie das Faktum der Mitgliedschaft schlicht vergessen, was natürlich auf Anhieb weder besonders glaubhaft noch plausibel, sondern erklärungsbedürftig ist? Oder haben Sie das Faktum der Mitgliedschaft bewusst verschwiegen und wenn ja, aus welchen Gründen?

Diese Fragen zielen nicht auf öffentliche Bußübungen. Niemand muss sich moralisch oder politisch dafür rechtfertigen, was er als 17-jähriger getan hat, um dem herrschenden Zeitgeist nahe zu sein. Aber als Intellektuelle, die sie als Erwachsene wurden, sind sie der historischen Aufklärung verpflichtet - auch der eigenen Lebensgeschichte gegenüber. Günter Grass hat das, allerdings etwas spät, getan. So brauchte er sich neben den legitimen kritischen Rückfragen über die viele ressentimentgeladene Häme nicht zu wundern.


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