Kasseler Schnittchen

Finissage Die hundert Tage der 13. Documenta sind bald vorüber. Für viele Freitag-Autoren war die Kunstausstellung eine Reise wert. Ein Abschiedsspaziergang

Aníbal López:„Testimonio“

http://img193.imageshack.us/img193/7044/lpezanbalevnthenrikstro.jpgFoto: Henrik Stromberg / Documenta (13)

„Hier tritt gleich ein Auftragskiller auf.“ Das war die erste Nachricht, die mich per SMS aus Kassel erreichte. Wenn man nicht gleich zu Beginn zur Documenta fährt, dachte ich, hat man die Hälfte schon verpasst. Aber was macht ein Mörder bei einer Kunstausstellung?

Die Kuratorin Carolyn Christov-Bakargiev hat in großen, nicht nur künstlerischen Zusammenhängen nach Kunst gefischt. Daher passt „Testimonio“ – Zeuge – auf den ersten Blick gut in ihr Portfolio. Der guatemaltekische Künstler Aníbal López möchte mit der Einladung eines Auftragsmörders auf die politische Situation in seiner Heimat aufmerksam machen, die von kriminellen Kartellen und Guerillabewegungen beherrscht wird.

Die Arbeit fällt aus der ansonsten angenehm zurückhaltenden Präsentation von Kunst der diesjährigen Documenta heraus. Für alle spätentschlosseneren Besucher läuft ein Video-Loop davon in der Neuen Galerie. Dass ein echter Auftragskiller im Gespräch mit Künstler und Publikum aus seinem Leben berichtet, hat Sensationscharakter. Verstärkt wird das noch durch die Anonymisierung. Er ist nur als Silhouette hinter einer Leinwand auf der Bühne zu erkennen. Aníbal López möchte in die Psyche eines Mörders vordringen. Doch Situation und Setting überstrahlen die Frage, was den Mann zu diesem Leben treibt.

Das Publikum ist ohnehin mehr mit dem eigenen Voyeurismus beschäf-tigt – damit lässt „Testimonio“ von López den Betrachter leider unbescholten allein. Cara Wuchold

Carolyn Christov-Bakargiev: „Brain“

http://img253.imageshack.us/img253/3183/thebraininstromanmrz445.jpgFoto: Roman März / Documenta (13)

Neben den Einzelbeiträgen sind in Kassel auch die subtilen Verbindungen zu ent-decken, welche die Arbeiten immer wieder miteinander eingehen. Technische Modelle, historische Repräsentationen, gesellschaftliche Entwicklungen und künstlerische Strategien bilden neue Erkenntnismuster, einzelne Bilder gewinnen oder verlieren je nach Kontext an Bedeutung. Am besten veranschaulicht das die Miniatur-Ausstellung-in-der-Ausstellung in der Rotunde des Fridericianums. Die Entstehung von Erinnerungen über die Zeit, Erinnerungen als Ergebnis neurophysiologischer Prozesse, als Gegenstand psychoanalytischer Untersuchungen, das Erinnern traumatischer Erfahrungen und die Erinnerung als Bedingung jedweder Kunst kommen in diesem, auch als „Brain“ bezeichneten Raum zusammen. Ania Corcilius

Pedro Reyes: „Sanatorium“

http://img835.imageshack.us/img835/4530/reyespedroinstcnilsklin.jpgFoto: Nils Klinger / Documenta (13)

Anders als die meisten anderen Hütten in der Karlsaue gibt sich Pedro Reyes‘ „Sanatorium“ nicht hyperhermetisch. Der Mexikaner lädt den am Weltgeschehen schwer tragenden Documenta-Besucher in eine provisorische, utopische Klinik zur Therapie gegen Stress, Einsamkeit, Reizüberflutung ein, wobei deutlich auf den Kunstcharakter dieser „Behandlung“ hingewiesen wird. Die Patienten können aus acht verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten wählen: Bei „Cityleaks“ etwa schreibt man ein persönliches Geheimnis auf einen Zettel und bekommt dafür das Geheimnis eines anderen Menschen ausgehändigt. Während meine Begleitung die Paartherapie wählte, entschied ich mich für „Goodoo“, eine erdachte Voodoo-Verkehrung, bei der eine Stoffpuppe mit positiven Attributen belegt wird. Die Therapeuten, allesamt Kunststudenten, befragen einen dabei laufend nach den Gründen für oder gegen eine getroffene Entscheidung, was dazu führt, dass man ziemlich komische Sachen über sich preisgibt.

Meine Begleitung verbrachte indes ihre dreißigminütige Therapie damit, Früchte auszuwählen, die stellvertretend für sie und ihren Partner standen. Nachdem dieser Entscheidungsprozess ebenfalls ausführlich hinterfragt worden war, wanderten die erlesenen Früchte in den Mixer. Aus dem Geschmack des Saftes durfte dann auf Zustand und Zukunft der Beziehung geschlossen werden.

Etwas unfreiwillig verwandelte sich dieser Freud’sche Freizeitpark auch in eine soziale Plastik: Das Klinikpersonal war enttäuscht, dass sich Reyes nie vor Ort zeigte. Die Kunststudenten lehnten es daraufhin ab, die Therapien weiter unentgeltlich durchzuführen. Am letzten Wochenende wurde das „Sanatorium“ kurzerhand bestreikt und andern-orts über die Arbeitsbedingungen dis-kutiert. Und so ist dem „Sanatorium“ durch diese gesunde Entwicklung auch noch die Referenz auf den in Kassel allgegenwärtigen Joseph Beuys geglückt. Moritz Scheper

AND AND AND:„Commoning“

http://img210.imageshack.us/img210/4294/andandandinstcnilskling.jpgFoto: Nils Klinger / Documenta (13)

Als skeptischer Zeitgenosse, zu dem einem die Kunstbetrachtung im Allgemeinen und der Documenta-Besuch im Besonderen womöglich auch machen könnte, ist man unsicher, was in der herrlichen Karlsaue von den Verpflegungsstationen am Liegegestühl zu halten ist: sinnvoller Service oder kommerzielle Kontaminierung von etwas Zweckmäßigem ohne Zweck?

Den dritten Weg bietet der regionalökologische Kiosk von AND AND AND am Beginn der westlichen Wegachsean: Die selbstgeschmierten Käsebrote mit Tomaten-Körbchen schmecken einfach besser als die Standardbrezel an der Verpflegungsstation. Und bei allem Pragmatismus dieses Kunstwerks (an dem wochenends freilich auch diskutiert wird), bleibt ein irritierender Rest: Die Käse-brotschmierfrau ist nämlich nur zum Schmieren da. Sieverweigert Servicefreundlichkeit und verweist nüchtern darauf, dass eigentlich selbst gezahlt und genommen werden sollte. Matthias Dell

Ana Prvacki: „Greeting Commitee“

http://img213.imageshack.us/img213/9251/prvackianafilmstillanap.jpgFoto: Ana Prvacki (Filmstill) / Documenta (13)

Im Katalog ist zu lesen, Ana Prvacki habe professionelle Coaches engagiert, um die Mitarbeiter mit Publikumskontakt in Sachen gutes Benehmen und Höflichkeit zu schulen. Die Besucher würden „von einer Atomsphäre größerer Höflichkeit, Freundlichkeit und Gastfreundschaft profitieren“.

Der Documenta-Besuch funktioniert wie eine Untersuchung der durch die Dienstleistungsindustrie in Warenform gebrachten sozialen Interaktionen. Als performative Arbeit ist „Greeting Commitee“ besonders auf einer Veranstaltung dieser Größe interessant, wo schwer herauszufinden ist, ob die zahlreichen Angestellten das Training nun umsetzen oder nicht. Unterhält man sich mit ihnen, fragt man sich ständig, ob sie wirklich speziell geschult wurden. Kann unsere Unterhaltung in dem Fall dann überhaupt echten Wert haben, der über die höflich-professionelle Fassade hinausgeht? Was sagt das über den Dienstleistungscharakter einer Ausstellung? Der einfache Hinweis darauf, dass jemand daran teilnimmt, weil er dafür bezahlt wird, zeigt den Einfluss der Globalisierung auf das alltägliche Verhalten der Menschen.

Schwer zu sagen, ob ich das tatsächlich unmittelbar erfahren habe, zumindest teilweise geht es um diese Ambivalenz des Werts und Zwecks von Gastfreundschaft. Iain Pate

Ryan Gander:„Leichter Luftzug“

http://img269.imageshack.us/img269/5301/ryanganderfridericianum.jpgFoto: Nils Klinger / Documenta (13) / Annet Gelink Galerie, Amsterdam; GB Agency, Paris; Johnen Galerie, Berlin; Lisson Galerie, London; Taro Nasu, Tokyo; Galerie Lafayette, Paris

Beim Betreten des Fridericianums fällt vor dem Luftzug die Leere auf. Kein Objekt weit und breit, unbespielte Wände soweit das Auge reicht. Keine Kunst will was von einem, nirgends muss man Schrifttafeln entziffern oder sonstwie sinnstiftend aktiv werden. Aus kunsttouristischer Perspektive eine ideale Betrachterposition, lag man doch eben noch in den steifen Hängematten, die Apichatpong Weerasethakul in den Wäldchen der Karlsaue aufgespannt hat. Ryan Gander heißt der britische Künstler, dem wir die leichte Brise verdanken, die sich ihrerseits einem ziemlich ge-waltigen Gebläse verdankt. Gehobene Scharlatanerie? Demonstrative Ablehnung des kanonisierten Objektbegriffs? Einfach keine andere Idee für die Bestückung der ersten Etage gehabt? Mag sein – aber vor allem: ein Beitrag zum Klimawandel. Simon Rothöhler

Susan Philipsz: „Study for Strings“

http://img221.imageshack.us/img221/8370/susanphilipszrosamariar.jpgFoto: Rosa Maria Rühling / Documenta (13) / Galerien T. Bonakdar, NYC & I. Bortolozzi, Berlin

Es ist nicht einfach, in Kassel einen Schlusspunkt zu finden. Mir wurde die Entscheidung am frühen Sonntagabend im Hauptbahnhof von Susan Philipsz abgenommen. Philipsz hat sich, nicht als einzige in diesem Jahr, mit Kassels Geschichte und mit diesem Ort befasst, von dem aus 755 Menschen 1942 nach Theresienstadt deportiert wurden. Die Studie für Streichorchester wurde im gleichen Jahr von Pavel Haas in diesem KZ komponiert, wenig später wurde er nach Auschwitz verlegt und ermordet. Philipsz hat seine Studie von einer Bratschistin und einem Cellist einspielen lassen, jede Note separat, und die einzelnen Töne auf sieben Lautsprecher aufgeteilt. Am Ende des Bahnsteigs ist man von dieser schleppenden Melodie umringt, und schon mit den ersten Tönen stellt sich durch die Impulse von allen Seiten die nötige Aufmerksam-keit wie von selbst ein, als könne keine Ecke des Gehirns nun noch abdriften, zu dem zuvor Gesehenen, zu dem, was man noch anschauen könnte. Philipsz zeigt, wie Gedenken funktionieren kann, wenn es nicht für alle Zeit in Stein gemeißelt wird. Christine Käppeler

Weitere Eindrücke von der Documenta im neuen Kunst-Blog Let’s Talk About Art

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