Es könnte das letzte Festival seiner Art gewesen sein. Ein Festival, das sich den Luxus leistete, eine großzügige Tribüne der internationalen Solidarität zu sein, und das gleichzeitig den kleinmütigen Mangel an nationaler Auseinandersetzung duldete. Das Blut der anderen schien uns wichtiger als der Dreck zu Haus. Wir hoben die Fäuste als Zeichen revolutionärer Gesinnung, Gesten, die zur Allüre wurden, stimmungsvoller Ersatz. In den letzten Jahren hoben sich keine Fäuste mehr, sie ballten sich, heimlich oder ganz offen. Die Droge internationale Solidarität verlor an Wirkung, nüchterner sah man das eigene Land. Aus der Sowjetunion drangen Filme durch, die aufstörten, uns zu Besinnung und Bilanz brachten. In den Blütentraum
aum vom Sozialismus brach der Albtraum des Stalinismus. Wir gewöhnten uns, zögernd und erleichtert, den Schrecken, das immer Geahnte, immer Verdrängte, als Realität anzuerkennen. Filme, denen es gelang, auch nur einen Fetzen sozialistischer Wirklichkeit zu zeigen, wurden zu Ereignissen.Im ersten Bulletin dieses 32. Leipziger Festivals, fünf Wochen nach der Wende, findet sich die Erklärung: „Die Mitglieder des Komitees der Leipziger Dokumentarfilmwoche werden nach Abschluss und Auswertung dieses Festivals um ihre Abberufung bitten. Geschichte, Situation und Perspektive der Dokumentarfilmwoche werden von den Mitgliedern des Komitees unterschiedlich eingeschätzt ...“Es könnte das letzte Festival seiner Art gewesen sein. Mit seinen Stärken und Schwächen. Wohl auch das letzte Festival ohne Stuyvesant- und Sat-1-Reklame, gegen die sich Komiteemitglied Roland Steiner noch mannhaft wehrte in Leipzig.Vom Winde verweht„Heldenstadt der DDR“ stand auf dem Ortseingangsschild. In Leipzig ’89 war Leipzig der Nabel der Welt. Die ausländischen Gäste drängten sich vor einer Fotoausstellung in der Messehauspassage, die die Montagsdemonstrationen dokumentierte, Bilder einer deutschen Oktoberrevolution, Dokumentation von Veränderungswillen und Zorn. Solche Fotos wurden im Festivalgebäude Petershof als Souvenirs verkauft, möglicherweise sind sie schon historisch, was ihre progressive Intention anlangt.Der erste Film: Leipzig im Herbst – 16.10. bis 7.11.89 – aktuelles Material von Andreas Voigt, Gert Kroske und Sebastian Richter, Hommage für jene, die als Erste gemahnt hatten: „Wir sind das Volk!“ Der Film beginnt mit jungen Gesichtern, in denen sich Erregung widersprüchlich spiegelt, Gesichter zwischen politischer Leidenschaft und Fußballfanatismus. Arbeiter des VEB GISAG reden, Mitglieder des Neuen Forums, SED-Funktionäre, Straßenfeger, die nach der Demonstration Plakate vom Rathaus entfernen mussten, gegen ihre Überzeugung: „Ich hätt sie drangelassen.“ Ein Polizist, der gegen die Demonstranten im Einsatz war, bekennt: „Ich hab mich geschämt, diese Politik zu verteidigen.“Die rasche Dokumentation der Ereignisse vom Oktober und November in Leipzig, Dresden und Berlin per Film und Video, gemacht von DEFA, Fernsehen und, ganz bestimmend, von der Filmhochschule (Goldene Taube ehrenhalber): Es lebe die R., 10 Tage im Oktober, Aufbruch ’89 Dresden, Der 7. Oktober bis zu dem makaber-peinlichen, notwendigen Gang von elf99, dem Fernseh-Jugendmagazin, nach Wandlitz, in das Wachobjekt Waldsiedlung. Da stand dann am Ende der eben noch mächtige Kurt Hager mit seiner schweigenden Frau unter den gelben Herbstblättern des Wandlitzer Parks, ein alter Mann mit Joppe und Mütze, dem die Unfassbarkeit der letzten Wochen, das Nicht-Begreifen-Können ins Gesicht geschrieben waren. Hager ist bereit, Auskunft zu geben über alles und nichts. Doch die Kamera entfernt sich, deutlich Distanz signalisierend, lässt den stockenden Redefluss des einsamen alten Herrschers im Winde verwehen, ein Vorgang, der für mich etwas seltsam Pornografisches hatte in solch rigoroser Entblößung.Jahrzehntelang sind es die anderen gewesen, die wir auf der Leinwand des Kinos Capitol demonstrieren sahen, protestieren, die vor unseren Augen geprügelt und mit Wasserwerfern in Schach gehalten wurden. Leute in Lateinamerika, in den USA, in Italien oder in der Bundesrepublik waren es, die die Internationale sangen. Fremde Straßen, fernes Pflaster. Jetzt plötzlich, und das Wirkliche will einem surrealistisch scheinen, sind es Leipziger Straßen, ist es Dresdner Pflaster, ist es die Berliner Gethsemanekirche, wo Menschen sich wehren, und die ersten, die sich wehrten, wurden zusammengeschlagen, und Blut floß, und es war unser Blut, nicht das der anderen.Der Wert dieser Reportagen liegt in der schnellen Dokumentation und Reflexion der unerhörten Ereignisse, die manchmal über die aktuelle Berichterstattung des Fernsehens hinausgehen. Da gibt es ein Interview mit einem Polizeioffizier, der arglos, selbstgerecht und locker vom Leder zieht, immer das Feindbild vor Augen: „den Mob, angeführt vom ZDF“. Oder der Junge, der als Rowdy verurteilt worden war, weil er am Dresdner Hauptbahnhof einen Stein geworfen hatte und von sich sagt: „Ich bin eigentlich ein ruhiger Mensch.“Ich bin in Leipzig, der Stadt der friedlichen Revolution, deren Ruf „Wir sind das Volk“ innerhalb weniger Wochen legendär wurde, international. Hier sind am mutigsten Reformen gefordert worden, Demokratie, Abschaffung des stalinistisch geprägten Sozialismus, eine bessere DDR. Ausländische Filmemacher sind angereist voller Bewunderung. Zwei Tage nach Beginn des internationalen Festivals hatte ein Trupp junger Männer vor dem Capitol gestanden und „Ausländer raus“ gebrüllt. Das kommt vielleicht in den besten Demokratien vor, für mich war es ein Schock.Auch die Montagsdemo war anders. Jeder Redner, der nur im Ansatz eine links von der Mitte liegende Meinung formulieren wollte, wurde vom Podium gepfiffen, der von der „Böhlener Plattform“ ebenso wie der aus Heidelberg, der zu bedenken gab, dass eine Wiedervereinigung Schattenseiten haben könnte. Die Stimmung war deutschnational. Schwarz-rot-goldene Fahnen mit Vereinigungsparolen, schwarz-rot-goldene Regenschirme mit dem schwarzen Wort „Deutschland“. Applaus für den Redner, der den „Karl-Marx-Platz, früher Augustusplatz“, in „Platz der Freiheit“ umbenennen wollte, und für jenen, der den Friedensnobelpreis für Leipzig forderte. (...) „Demonstration bis zur Einheit der Nation“ stand auf Transparenten, und: „Auf Wiedersehen, Ihr Roten Brüder, niemals wählen wir Euch wieder“. Forderungen nach Umweltschutz oder Losungen gegen Neonazis waren in den Hintergrund geraten. Die Wirklichkeit auf der Straße hatte die Leinwand lange überholt. Das Material, das eben noch als aktuell galt, war schon historisch.Etliche der Festivalteilnehmer hatten die Demonstration erlebt. Irritiert versammelten sie sich zwei Tage später vor dem Kino, um gemeinsam zu einer Kundgebung zu gehen, zu der die SED aufgerufen hatte. „Vaterland ist abgebrannt, wir wollen unser eigenes Land“, stand auf einem langen weißen Tuch. „Volksverräter“, schrien drei Männer vom Straßenrand. Die Veranstaltung auf dem Dimitroffplatz war ein Trauerspiel anderer Art. Das Defizit an wirklich neuem Denken manifestierte sich in einer Sprache, die so festgefahren ist, dass sie den Weg zu den Leuten nicht mehr schafft.„Zwischen Euphorie und Angst bin ich“, bemerkte jemand, der im Festivaltreff vor mir in der Buffet-Schlange stand, „zwischen Euphorie und Angst“.Bei den Preisen teilten sich Michael Moores (USA) Roger & Me und Unsere Kinder von Roland Steiner (DDR) eine Silberne Taube. Steiner interviewt Skinheads und Grufties. Sehnsucht nach Sinn, Fragen, auf die keine Antwort kommt. Sie sind ausgestiegen aus einer Gesellschaft, an deren „Sprüche man nicht mehr globen“ kann. Und eines Tages findet eine Mutter ein Foto ihres Sohns in SS-Uniform, eines anderen Tages sitzt sie weinend neben anderen, noch jungen Müttern im Gerichtssaal. Der unentdeckte Protest eskalierte, formierte sich in einer Gemeinschaft, die auf Gewalt aus ist und auf Kameradschaft, „weil man dem Leben dann nicht als Einzelner gegenübersteht, sondern in der Gruppe“, Nazi-Idole, Ausländerhass, „weil die mit ihrem Westgeld in jede Disko reinkommen“. Von „gesundem Nationalstolz“ ist die Rede. Dass die Skins nur als Opfer gezeigt werden, niemals als Täter, wurde in der Leipziger Diskussion kritisch angemerkt, ein Aspekt, der den laufenden Ereignissen geschuldet ist, die Mitleid problematischer machen, denn der Ruck nach rechts ist zwar unfassbar, wie so vieles in diesem Herbst, aber auch unübersehbar.Placeholder infobox-1Placeholder infobox-2
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