Die Nordallianz wird die ethnischen und religiösen Konflikte auf grauenvolle Weise verstärken", so kommentierte die Revolutionary Association of the Women of Afghanistan (RAWA) im November des letzten Jahres die Bildung der afghanischen Interimsregierung. Auch wenn die Nordallianz gelernt habe, "sich gegenüber dem Westen als demokratisch zu postieren und sich sogar als Befürworter von Frauenrechten darzustellen, haben sie sich keineswegs geändert".
Diese Ansicht bestätigte auch Carola Schaaf, Menschenrechtsexpertin von amnesty international, während der Benefizgala zur finanziellen Unterstützung der RAWA-Arbeit am 23. Dezember im Berliner Tempodrom: "Die RAWA wird weiter im Untergrund bleiben." Claudia Roth - Bundesparteivorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen nahm als Schirmfrau der Gala darauf keinen Bezug: "Heute endlich lüftet sich der Schleier, die Burqua, und es ist an uns, an die Frauen in Afghanistan zu denken, es ist an uns, den Frauen ihre Gesichter wieder zu geben." Illustriert wurde dieses Statement durch eine Modenschau, in der ein Model mit Burqua-ähnlichem Umhang auf die Bühne kam, bald darauf aber ein darunter liegendes, ärmelloses Abendkleid freilegte. Das wird hierzulande unter der Frauenbefreiung in Afghanistan verstanden.
Die älteste afghanische Frauenrechtsorganisation
Die politische Losung der RAWA lautet "Freiheit der Frauen und des Landes", erläutert die Aktivistin Safoura*. Dafür kämpfen die Frauen von RAWA seit 1977, dafür versuchen sie seit den frühen achtziger Jahren die Weltöffentlichkeit zu bewegen. Auch die Erkenntnis, "mit Fundamentalismus kann es keine Frauenbefreiung geben", bestimmt seit Beginn ihres Bestehens Ziele, Inhalte und Strategien ihrer politischen Arbeit. Deren Eckpunkte heißen: Menschen- und Frauenrechte, Demokratie, Säkularisierung, Anti-Fundamentalismus. Dabei beziehen sich die heutigen RAWA-Aktivistinnen in ihren politischen Haltungen auf ihre Gründerin Meena. Diese hatte bereits 1981 in Frankreich auf die Gefahren des Fundamentalismus aufmerksam gemacht. In einem Gedicht schreibt sie: "Ich bin eine Frau, die erwacht ist, ich habe meinen Weg gefunden, und ich kehre nie wieder um." Sechs Jahre später wurden sie und zwei ihrer Mitstreiterinnen von Geheimdienstagenten der afghanischen Abteilung des KGB (KHAD) und fundamentalistischen Komplizen im pakistanischen Quetta ermordet. Um die Gefahren, denen die RAWAs durch ihre Arbeit ausgesetzt sind, machen sie nicht viel Worte: "Jede hat ihren Überlebensmechanismus gefunden."
Gut ausgebildete Aktivistinnen
Lokale und regionale Befreiungskämpfe von Frauen werden selten über die Landesgrenzen hinaus bekannt. RAWA ist es dagegen gelungen, stark in den Medien präsent zu sein. Bereits wenige Tage nach den Anschlägen vom 11. September erschienen Berichte sogar in den ARD-Tagesthemen. Besonders spektakulär waren die Dokumentationen über Lebensbedingungen von Frauen und vor allem über Hinrichtungen, die die RAWA-Aktivistinnen unter Einsatz ihres Lebens mit - unter der Burqua versteckten - Digitalkameras drehten und aus dem Land brachten. Filme, die schon seit Jahren auf der Homepage der Organisation (www.rawa.org) stehen.
Während es in Pakistan teilweise möglich ist, auch in die Öffentlichkeit zu treten, müssen die RAWA-Frauen in Afghanistan vollständig im Untergrund agieren. RAWA organisiert die Suche nach Vermissten, unterstützt traumatisierte, vergewaltigte Frauen, bietet Alphabetisierungskurse an und unterhält Heimschulen. In Pakistan wurden Waisenhäuser und Schulen aufgebaut, Lebensmittelversorgung und medizinische Hilfe in Flüchtlingslagern organisiert. RAWA greift zudem Frauen, insbesondere verwitweten, mit Kurzzeitkrediten finanziell unter die Arme, damit sie sich eine eigene Existenz, beispielsweise als Schneiderin aufbauen können. RAWA ist auch kulturell tätig: Theaterabende und Musikcassetten-Produktion sind nur zwei Beispiele.
Derzeit zählt RAWA 2.000 Mitstreiterinnen. Dazu kommen viele tausend Unterstützerinnen und Unterstützer. Unter dem Taleban-Regime war die Kooperation mit Männern unerlässlich, da Frauen nicht ohne männliche Begleitung auf die Straße durften. Von der Mitgliedschaft sind Männer jedoch ausgeschlossen. Die Aktivistinnen sind in der Regel gut ausgebildete Frauen aus unterschiedlichen ethnischen Gruppen.
RAWA legt besonderen Wert auf die Unabhängigkeit ihrer Arbeit. Keine Pakte mit Fundamentalisten, keine Kompromisse: "Wir sind keine Kollaborateure!" Auf ihrer Europareise machten die beiden Aktivistinnen Safoura und Shalah immer wieder deutlich, dass aus diesem Grund auch eine Zusammenarbeit mit der neuen Interimsregierung unter Premier Hamid Karsai nicht in Frage kommt. Denn Frauen seien lediglich "Symbolfiguren" in diesem Krieg und auch bei der Frage politischer Partizipation in der zukünftigen Regierung.
Unabhängig arbeiten heißt auch, sich nicht reinreden zu lassen. Der britische Premier Tony Blair knüpfte finanzielle Mittel an eine Quasi-Umbenennung von RAWA. Das "revolutionär" sei zu streichen. "Doch da gibt es nichts zu streichen", so die RAWA-Aktivistin Safoura. Revolutionär meint, so fügt sie hinzu "sich nicht zu verkaufen", "auch nicht für ein bisschen Geld".
Ein Leben auf der Flucht
RAWA versteht sich als feministische Organisation und als Teil der internationalen Frauenbewegung. Seit 1981 wird die Zeitschrift Payam-e-Zan (Frauenbericht) dreisprachig in Persisch, Paschtu und Urdu herausgegeben, in der zum Beispiel fundamentalistische Gräueltaten thematisiert werden. Zudem organisiert RAWA regelmäßig Demonstrationen und politische Diskussionen zu Frauenrechten, Demokratiemodellen und Fundamentalismus. "Dabei arbeiten wir je nach Gruppe auch mit einfachster Sprache, damit Mädchen und Frauen, die keinerlei Zugang zu Bildung hatten, teilnehmen können", so Shalah. Die Zukunftsvorstellungen von RAWA gehen weit. Ihre Pläne umfassen beispielsweise die Abschaffung des Männermonopols auf Computer oder die freie Entfaltung lesbischer Lebensformen.
Die Realität der politischen Möglichkeiten sieht dagegen anders aus. Bislang gibt es in Pakistan noch nicht einmal eine offizielle Anerkennung als Non Governmental Organisation (NGO). Diese wurde RAWA mehrfach von der pakistanischen Regierung verwehrt (s. Gespräch). Die mal öffentliche, mal verdeckte Arbeit bewegt sich rechtlich in einer Grauzone. Ihre Decknamen wechseln die RAWAs fast so oft wie ihre Handy-Nummern und Wohnsitze. Ein Leben auf der Flucht. Aktivistinnen wurden und werden verhaftet, Telefone abgehört, Versammlungen angegriffen durch oder unter den Augen der pakistanischen Polizei. Die politische Arbeit der RAWA-Aktivistinnen ist und bleibt ein Engagement mit großen Gefahren für die psychische und körperliche Verfassung der Frauen. Und die Erinnerung an die Selbstverständlichkeit, mit der Frauen immer wieder mit Gewalt aus dem öffentlichen Leben Afghanistans verdrängt wurden, darf unter den Bedingungen der Interimsregierung nicht verblassen, denn unter dem Mudjahedin-Regime, also der heute an der Regierung beteiligten Nordallianz, sind Studentinnen in Hörsälen vergewaltigt worden, bis sich keine Frau mehr an die Universität gewagt hätte.
Säkularisierung fördern
Anfang Dezember 2001 demonstrierten RAWA-Aktivistinnen und SympathisantInnen - unter einem massiven Polizeiaufgebot - gegen die neue Interimsregierung in Islamabad. Sie forderten laut Pakistan Observer die politische Beteiligung von Frauen an der Neugestaltung des Staates und sie verwiesen darauf, dass eine Besetzung politischer Ämter mit Frauen allein noch keinerlei Garant für eine freiheitlich gesinnte Regierung sei.
Die erste Übergangsregierung Afghanistans, die seit dem 21. Dezember für ein halbes Jahr im Amt ist, besteht aus vier Gruppen, von denen drei fundamentalistisch sind, eine monarchistisch. In dem 30-köpfigen Kabinett sind zwei Frauen, eine Gesundheits- und eine Frauenministerin. Die Schlüsselministerien sind mit Männern der Nordallianz besetzt: das Innen-, das Außen- und das Verteidigungsministerium liegt somit in den Händen fundamentalistischer Gruppen. Als geltendes staatliches Recht wird die Sharia eingesetzt. Damit sind Weichen gestellt, die den Forderungen der RAWA deutlicher nicht entgegenstehen könnten. Denn für sie ist Säkularisierung eine erste Grundbedingung für die strukturelle Entmachtung des traditionell islamischen Rechts und dafür, dass die Definitionsmacht darüber, was Recht und was Unrecht ist, nicht weiterhin in den Händen der Fundamentalisten liegt.
Dass die RAWAs in der aktuellen Situation keine Anknüpfungspunkte für eine grundlegende Verbesserung von Frauenrechten sehen, scheint einleuchtend. Die RAWA-Aktivistinnen Safoura und Shalah gehen in ihrer Kritik aber noch weiter. Sie sagen, dass die US-Regierung keine Probleme mit einem fundamentalistischen "Sohn Afghanistan" hat, solange dieser sich nicht gegen den Vater auflehnt.
Es bleibt also dabei: Frauen sind politische Verschiebemasse. Aber es soll ja alles besser werden für die Frauen. Hamid Karsai versprach bei seiner ersten Regierungserklärung Ende Dezember mehr Rechte für Frauen. Frauenfreundliche Gemeinplätze als politische Symbolik fürs internationale Politikparkett. Das ist neu. Aber für die Situation von Frauen wenig hilfreich.
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