Kein Anschlag auf, sondern für das Grundgesetz

Meinung Aktivistinnen der „Letzten Generation“ stellen sich im Berliner Regierungsviertel schützend vor das Grundgesetz. Und deutsche Politiker hauen ihnen dafür Taliban-Vergleiche um die Ohren
Ausgabe 10/2023
Diese Aktion ist mindestens genauso gut wie Luthers Anschlag auf eine Kirchentür
Diese Aktion ist mindestens genauso gut wie Luthers Anschlag auf eine Kirchentür

Foto: Jonas Gehring/Imago/aal.photo

Egal, was sie machen, es ist falsch. Das Narrativ des Klimaterrorismus ist einfach zu schön, um es beiseitezulegen. Getreu dem perversen Motto: Alles, was den Kampf gegen den Klimawandel schwächt, ist gut. Aktivistinnen der „Letzten Generation“ haben im Berliner Regierungsviertel das Grundgesetz-Denkmal mit schwarzer Farbe beschmiert. „Erdöl verfeuern oder Grundrechte schützen?“ Nur eines sei möglich. Mal ehrlich: Wussten Sie vorher, dass es das Werk des israelischen Künstlers Dani Karavan zu Ehren der 19 Grundrechte gibt? Jetzt weiß es die ganze Republik!

Kommentare aus dem Politikbetrieb unterstellen hysterisch, die Aktiven wollten die Verfassung schänden. Manch einer rückt sie gar in die Nähe der systematisch Kunstwerke zerstörenden Taliban. Die Bild-Zeitung ächtet „Demokratie-Verachtung in Öl“. Bundesinnenministerin Nancy Faeser findet die Aktion am Bundestag, dem „Herz unserer Demokratie“, „völlig würdelos“.

Doch sie alle lenken von den Tatsachen ab: Jetzt können wir noch in Freiheit handeln – später müssten die Grundrechte tatsächlich eingeschränkt werden, wissen Mobilitätsforscher. Weder mit wissenschaftlichem noch mit künstlerischem Sachverstand scheint es „im Herzen unserer Demokratie“ weit her zu sein: Die „Letzte Generation“ macht darauf aufmerksam, dass die Verfassung zu schützen ist. Statt Kartoffelbrei auf Kunst zu werfen, bieten sie, wie weiland Verpackungsgenie Christo am Reichstag, eine kreative Performance (allerdings ohne Millionenkosten). Beuys hätte sich dazugesellt und seinen 7.001. Baum in den Polit-Beton gepflanzt! Und Luther seine 96. These dazugegeben, ergänzend zu den 95, mit denen er einst zivilungehorsam seinen Anschlag auf eine Kirchentür verübte.

Die Aktivisten zeigen: Wir sind lernfähig. Und sie fordern: Seid ihr es auch! Das Grundgesetz ist, wie der Name schon sagt, die Grundlage unseres Staates. Die Basis unserer Demokratie. So wie die Luft zum Atmen, die Pflanzen, Tiere, Meere, Böden die Grundlagen unseres Lebens sind. Wir sind verpflichtet, sie zu bewahren. Daran erinnert die „Letzte Generation“: Klimaschutz hat auch Verfassungsrang.

Wem dafür das Pariser Klimaabkommen und ein Blick in Artikel 25 Grundgesetz nicht reichen – das Klimaabkommen ist ein völkerrechtlicher Vertrag, Völkerrecht hat Vorrang vor nationaler Gesetzgebung –, möge sich den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutzgesetz in Erinnerung rufen. Karlsruhe hat sich unmissverständlich positioniert. Der Auftrag aus Artikel 20a, jenem Artikel, der Umwelt- und Klimaschutz als Staatsziel festlegt, sei der sorgsame Umgang mit den natürlichen Lebensgrundlagen, hieß es im Beschluss. Sie müssten in einem solchen Zustand hinterlassen werden, „dass nachfolgende Generationen diese nicht nur um den Preis radikaler eigener Enthaltsamkeit weiter bewahren könnten“. Wir haben die Welt nur von unseren Kindern geborgt, auf Juristendeutsch. Den nachfolgenden Generationen ist es laut der höchsten Rechtsinstanz der Bundesrepublik nicht zuzumuten, ihre Grundrechte ungleich härter einzuschränken, damit wir weiter in Saus und Braus leben können.

Da treten also Menschen für ihre verfassungsrechtlich verbrieften Rechte ein – und deutsche Politiker hauen ihnen dafür Taliban-Vergleiche um die Ohren. Dabei ist das kein Klimaterrorismus, sondern Klimakunst, die sich schützend vor das Grundgesetz stellt. Wir sollten sie uns zu Herzen nehmen.

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