Vom Netz genommen

Frankreich Eine Facebook-Sperre schadet der Tafel für Lebensmittel in Nizza. Auf die Spenden sind Zehntausende angewiesen
Ausgabe 44/2021
Rentnerinnen Anfang 60 erledigen bei der Tafel in Nizza die meiste Arbeit
Rentnerinnen Anfang 60 erledigen bei der Tafel in Nizza die meiste Arbeit

Foto: Sigfried Modola/Getty Images

Das Letzte, womit ich in den Herbstferien an der Côte d’Azur gerechnet hätte, war eine Reportage über Armut. Ich lächelte, als 60 Bootsbesitzer in Antibes gegen die Erhöhung der jährlichen Anlegegebühr von 1.500 auf 5.200 Euro im Jahr 2023 demonstrierten. Die Hafenleitung entgegnete trocken, eine einzige Jacht am sogenannten „Milliardärs-Kai“ würde 100 Arbeitsplätze schaffen. Auch die kleine Clique bettelnder Obdachloser, die ich jeden Tag am Spielplatz in der Altstadt abhängen sah, vermochte mein Herz kaum zu rühren. Sie stammten aus slawischen Ländern, parlierten auf Russisch und hätten auch ein härteres Los ertragen. Dann aber kam die Nachricht, dass die Facebook-Seite der Tafel von Nizza gesperrt wurde.

So stehe ich eines Morgens im Industrierevier von Nizza-Nord in einer Lagerhalle mit löchrigen weißen Deckenplatten. Einer von 139 ganzjährig Freiwilligen, der hagere 63-jährige Pensionär Tony Amato, empfängt mich. Rentnerinnen Anfang 60 erledigen hier die meiste Arbeit. Amato hat bis 2020 bei der Sparkasse gearbeitet, laut Rechenmaschine des „Observatoire des inégalités“ zählt er zu den zehn wohlhabendsten Prozent, nun gibt er etwas von dem „vielen Glück“ zurück. „Die Mehrheit aber, 38 Millionen Franzosen, verdient nicht gut“, sagt er mir. 41.000 von gut einer Million Einwohnern des Départements Alpes-Maritimes brauchen die Hilfe der Tafel. Reiche Ruheständler strömen an die Küste, Ausländer beziehen in Hightech-Parks wie „Sophia Antipolis“ fantastische Löhne, gerade deshalb gibt es hier mehr Armut. Die Mieten sind viel höher, die Krankenversicherung ist teurer, eine Pizza kostet ein Drittel mehr als in Marseille.

Beschenken Sie die Banken!

Kurzum, arme Menschen werden in einem Umfeld des Reichtums ärmer. Das schafft Neid und Überschuldung. 900 von 1.331 verteilten Tonnen Lebensmittel gehen allein in die Badeorte Nizza, Antibes und Cannes. 71 Prozent der Empfänger leben unter der Armutsgrenze, 70 Prozent arbeiten Teilzeit, und 70 Prozent sind Frauen, allein mit Kindern unter 15 Jahren. Um Spenden hereinzukriegen, braucht die Tafel Facebook. Amato schimpft: „Facebook ist ein Gas. Es gibt keine Madame Facebook, bei der man anrufen kann.“ Niemand kennt den Grund für die Sperre. Vor einem Jahr wurde die Tafel im Norden blockiert, der Grund ist bis heute unbekannt. Amato meint, die Sperre sei womöglich von der neuen Spendenkampagne ausgelöst worden. Ein Slogan spielt mit dem Wort „Lebensmittelbanken“, wie die Tafeln in Frankreich genannt werden: „Machen Sie eine Geste, beschenken Sie die Banken!“ Amato glaubt, dass ein blöder Algorithmus dies für unerlaubte Bankenwerbung hielt, jedoch blieb der Spruch im Rest Frankreichs freigeschaltet. Nur in Alpes-Maritimes – Amato: „Wir waren gegen diese Kampagne!“ – wurde die Tafel gesperrt.

Als er seine Powerpoint-Sheets vorbereitet, plaudere ich mit zwei ehrenamtlichen Pensionären. Sie haben gerade Süßigkeiten verpackt. Über ihnen hängen Tafeln für „Fischkonserven, Kekse, Hygiene, Milch“, in der Reihe am Fenster gibt es „Mehl, Zucker, Konfitüren, Reisbrei“. Um zehn haben sie kaum noch was einzupacken und erklären das mit Corona. Ich frage: „Gibt es jetzt weniger Arme?“ Sie: „Es gibt mehr Reiche.“ Amato präzisiert, dass die Supermarktketten seit der Pandemie kaum noch Frischwaren spenden. Doch sind die haushohen Lebensmittelregale in der großen Lagerhalle gut gefüllt, die der EU mit ihrem Turm „FEAD“ und die Frankreichs mit seinem Turm „CNAS“. Vizevorsitzender Richard Cohen, auch er sicher ein Rentner, sitzt in einem verglasten Büro mit Blick über die Halle. Angesprochen auf Facebook, beginnt er zu brüllen: „Das ist unzulässig! Ich bin nicht antiamerikanisch, aber das ist amerikanischer Puritanismus!“ Amato flüstert: „Er ist sehr wütend.“

Zwischen EU und Frankreich steht der Turm „Nationale Kollekte“. Diese Spenden brächten Vielfalt, so Amato, „Milch und Nudeln haben wir, aber Hygieneprodukte für Frauen brauchen wir auch. Und dafür sind wir leider von sozialen Netzwerken abhängig, die uns zugleich benutzen, um unsere Daten zu sammeln.“ Die Sperre komme einfach zum falschen Zeitpunkt: „Wenn du im Juli nicht auf Facebook bist, ist das nicht so schlimm. Aber im November ...“

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