Kein Ausgang. Wohin auch?

Erinnerung Der Schriftsteller Jörg Fauser wäre diese Woche 70 geworden. Für unseren Autor wird er immer der Sommer-Freund von 1960 bleiben, als sie gemeinsam Leichen ausbuddelten
Jörg Fauser in Göttingen 1969
Jörg Fauser in Göttingen 1969

Foto: unbekannt

Den Literaturhistorikern gilt er als Wegbereiter der Popliteratur, ein neues Handbuch empfiehlt seinen Krimi Der Schneemann von 1981 sogar als „Literatur für die Schule“. Für seine Freunde und viele Leser bleibt Jörg Fauser der Mann, der in der Nacht nach seinem 43. Geburtstag am 17. Juli 1987, gewiss nicht mehr nüchtern, die Autobahn A96 bei München betritt und von einem Lkw tödlich erfasst wird.

Heute wäre er 70 geworden. In meiner Erinnerung aber ist Jörg der Freund des Sommers von 1960, als wir gemeinsam Leichen ausgebuddelt haben. Das klingt heute wie ein Omen, hatte aber mit Krimis, wie er sie später schrieb und ich sie gerne las, nichts zu tun. Vielmehr waren wir, 16jährig, von der Obrigkeit ausgesandt, um Friedensdienst zu tun und deutsche Schuld zu sühnen. Mit einer Busladung voller Frankfurter Schüler (natürlich keine -innen!) rackerten wir drei Wochen von früh bis ziemlich spät mit Hacke, Spaten und Schubkarre in einem jener Wäldchen bei Verdun, die heute so idyllisch wirken, weil die gütige Natur das sprichwörtliche Gras über Knochen und soldatisches Gerät hat wachsen lassen. Eine verwahrloste, fast unkenntliche Grabstätte aus dem Jahr 1916 war herzurichten.

Jörg, den schon literarischer Ehrgeiz gepackt hatte, berichtete davon später im Lokalteil der Frankfurter Neuen Presse – im typischen Wiedergutmachungston der fünfziger Jahre: „’Reconciliation par-dessus les tombes’ – Versöhnung über den Gräbern, so heißt es auf dem Transparent über dem Eingang, zwei Hände begegnen sich über einem Kreuz. (...) Wir dürfen dann hier stehen unter den Bäumen, an deren Wurzeln wir uns Schwielen erarbeiten werden, und dürfen nur hoffen, daß das nicht mehr vorkommen werde, nicht in zehn, nicht in hundert Jahren (...). Nicht soll es heißen: ‚Mit Gott für Kaiser und Vaterland’, heißen vielmehr soll es: ‚Für den Frieden’.“

Wenn wir nicht so pathetisch drauf waren, also fast immer, kampierten wir in zwölf-Mann-Zelten auf schlammigem Feld, hatten abends keinen Ausgang (wohin auch?) und wurden von einer Küchenbrigade Frankfurter Muttis sehr preisgünstig bekocht . Nein, das war definitiv kein Gulag, aber la douce France war es auch nicht. Für die meisten von uns, aus bescheidenen Verhältnissen, immerhin preiswerte Sommerferien und die erste Auslandsreise überhaupt.

Und eine interkulturelle Lernsituation, wie man heute so sagt. Warum, so räsonnierten Jörg und ich, wenn wir den freien Samstagnachmittag bei einem diabolo menthe oder fraise in der öden Dorfkneipe totschlugen (Alkohol kam noch längst nicht in Frage), warum eigentlich sahen wir nie ein einziges Mädchen auf der Straße? War es möglich, dass ganz Frankreich ein Land ohne junge Frauen war?

Diese Vermutung ließ sich später individuell und empirisch widerlegen. Länger hat es gedauert, bis uns die Schiefheit, ja Verlogenheit der Unternehmung klar wurde: Dass die spätpubertierenden Knaben hier nicht so sehr das Elend ihrer Großväter im Westen betrauern als vielmehr die Schuld ihrer Väter im Osten abarbeiten sollten. Aus dieser Generation aber saßen noch einige Herren in den Gremien des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge, der uns losgeschickt hatte. Vermutlich hätte der eine oder andere auch selbst noch einen Spaten halten können.

Jörg und ich haben, wenn wir mit der Frage der Mädchenlosigkeit im gallischen Dorf wieder mal nicht weiterkamen, auch über unsere Lektüren gesprochen. Krimis spielten noch keine Rolle. Den Lektürekanon der Mittelstufe dominierte die Innere Emigration. Wir schwärmten, zeittypisch, beide für Benn – der bei mir von Brecht abgelöst wurde. Jörg war mit seiner Vorliebe für Kleist und Grabbe und für die ersten Amerikaner da sehr viel individualistischer.

Fünfundzwanzig Jahre später – seine stürmische Zwischenzeit hat er in seinem Autobiografieroman Rohstoff (1984) bewegend, aber auch amüsant erzählt – sah Jörg sich gewiss in der Nachfolge von Hammett und Chandler, deren Bücher wir beide, nun jeder für sich, seit Mitte der Sechziger entdeckt hatten und die uns nie mehr losließen. Sie alle sind inzwischen im Olymp der klassischen Kriminalliteratur: beim Diogenes-Verlag in Zürich versammelt. Und nach der Gerechtigkeit des Alphabets steht nun, zwischen Ambler und Chandler auf der einen, Hammett und Highsmith auf der anderen Seite, dort auch die neunbändige Werkausgabe mit Jörg Fausers schönen Essays über all die Großen und mit seinen eigenen, gar nicht so kleinen Romanen.

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