Kein bisschen Stuckrad-Barre: Suhrkamp-Pop im besten Sinne

Sammelband Florian Neuners befasst sich seit über 20 Jahren mit der (Neo-)Avantgarde. „Für eine neue Literatur“ versammelt Texte von 1999 bis 2022. Ein großartiger Band für eine experimentierfreudige Leserschaft
Ausgabe 49/2022
Als die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin noch Avantgarde konnte: Aufnahme aus 2012
Als die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin noch Avantgarde konnte: Aufnahme aus 2012

Foto: Imago/Drama-berlin.de

Wir müssten uns auf eine Metaebene begeben, „denn es gilt, einen Band mit Rezensionen zu rezensieren“. Was Florian Neuner damals in seiner Besprechung der Anthologie Luftgeister und Erdenschwere von Jörg Drews konstatierte – veröffentlicht im Jahr 2000 in der seit 2007 leider nicht mehr existierenden Berliner Stadtzeitung scheinschlag –, gilt nun auch für den vorliegenden Sammelband Für eine andere Literatur von Neuner selbst. In diesem Buch sind von ihm etwa 70 Texte, meist Rezensionen, von 1999 bis 2022 versammelt. Das Besondere: Wir lesen Besprechungen, Porträts, Reflexionen und Interventionen über Texte von Künstler:innen, die sich der Experimentellen Literatur, der (Neo-)Avantgarde verschrieben haben. Ähnlich wie im Band des scharfsinnigen- und züngigen SZ-Kritikers und Bielefelder Germanistikprofessors Drews, der Besprechungen der (Neo-)Avantgarde-Literatur von 1967 bis 1999 zusammenführte. Kein Wunder also, dass Neuner diese Rezension an erster Stelle stellt, da ihn dieser Band geprägt habe.

Doch bevor wir weiter einsteigen, ein paar Worte zum Autor selbst. Der 1972 in Oberösterreich geborene und seit Jahrzehnten in Berlin lebende Neuner ist ein veritabler Tausendsassa. Er ist nicht nur ein exzellenter Kulturjournalist – Print, Radio und online; Neue Musik, urbanistische Fragestellungen, Literaturkritik –, sondern auch ein hervorragender, mehrfach ausgezeichneter Schriftsteller. In den vergangenen Jahren sind unter anderen Bücher entstanden, die der Literaturwissenschaftler Thomas Ernst im Vorwort unter „Rostige Paradiese und Psychogeographie“ kategorisiert; manchen bekannt ist vielleicht Neuners „Revierlektüre“ Ruhrtext aus dem Jahr 2010 oder seine Inseltexte (2016) über Helgoland.Darin entwickelt er sein „Konzept der psychogeographischen Expedition“, ausgehend von Modellen der Situationisten um Guy Debord; die Methode des umherschweifenden Beobachtens, Notierens „im Text der Stadt“, genannt Dérive. Dem nicht genug: Neuner tritt auch als Herausgeber in Erscheinung, seit 2007 gibt er gemeinsam mit dem Verleger Ralph Klever die Zeitschrift Idiome. Hefte für Neue Prosa heraus.

Wo sind die Jungen?

Wie auch im vorliegenden Band: Neuner möchte mit dieser Sammlung „Bausteine zu einer literarischen Gegenöffentlichkeit“ liefern. Somit kommen in diesem Buch keine Verrisse vor. Stattdessen Lob der Werke unter anderem folgender Künstler:innen: Kurt Schwitters, die „Wiener Gruppe“ um Oswald Wiener und Gerhard Rühm, Chris Bezzel, Dieter Roth – einer breiteren Öffentlichkeit bekannt durch Herbert Fritschs spektakuläre Inszenierung Murmel Murmel 2012 an der Berliner Volksbühne, einem Ein-Wort-Stück aus den 1970ern, das bis dahin als nicht spielbar galt. Auch Texte bekannterer Autor:innen werden besprochen, etwa jene der Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek, von Alexander Kluge, Friederike Mayröcker (aber nicht Ernst Jandl!) sowie Elke Erb, Barbara Köhler, Waltraud Seidlhofer, Urs Jaeggi und Thomas Meinecke. Die Texte von Letzterem bezeichnet Neuner als „Suhrkamp-Pop“ im besten Sinne, im Gegensatz zu Stuckrad-Barre, dessen Werke er als „Dumpf-Pop“ degradiert. Was alle Autor:innen verbindet, ist die Arbeit an der Sprache. Sprache als Material. Sprache, die nicht als Vehikel für den Transport von Plots und Weltanschauungen vernutzt wird. Die sich marktkonformen Konventionen entzieht. Die Grenzen erforscht, erweitert, strapaziert. In Collagen, De- und Rekonstruktionen, mit Cut-up-Methoden, als Typogramm oder in Lautgedichten.

Kurz: Neuner zeigt mit seiner Auswahl eine faszinierende Bandbreite weitab vom langweiligen Mainstream-Geschreibe. Dabei bedient er sich je nach Medium (von der Freitag über Junge Welt bis hin zur Literaturzeitschrift wespennest) meist einer einfachen, nüchternen Sprache; stets informativ und konzise. Kein Wort zu viel. Kleiner Wermutstropfen: Es scheint, als ob die Avantgarde etwas nur für „Alte Hasen“ wäre … Wo sind die Jungen?

Fazit: Neuner tut gut daran, verschiedene Autor:innen der (Neo-)Avantgarde zu versammeln und fordert uns zu Recht auf, sich mit der Experimentellen Literatur zu beschäftigen. Ein großartiger Band für eine literarische Gegenöffentlichkeit!

Für eine andere Literatur Florian Neuner Klever Verlag 2022, 264 S., 24 €

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden