Kein einheitliches Lagebild

RECHTSRADIKALISMUS IM OSTEN Gottfried Timm (SPD), Innenminister in Mecklenburg-Vorpommern, über den unterschiedlichen juristischen Umgang mit dem Rechtsextremismus

FREITAG: Warum sind die von Innenminister Schily vorgelegten Zahlen nicht differenziert genug?

GOTTFRIED TIMM: Das Problem ist: Wenn wir die rechtsextremistischen Straftaten zählen wollen, dann kommt es darauf an, die politisch motivierten Straftaten zu zählen. Aber wenn man einfach nur - salopp gesagt - alle Hakenkreuze zusammenzählt und sagt, es gibt genauso viele politisch motivierte rechtsextremistische Straftäter, dann fehlt die Differenzierung, weil die Motive andere sein können.

Das heißt, es kann auch unpolitische Motive geben?

Solche Fälle hat es hier in Mecklenburg-Vorpommern gegeben. Da haben Schüler aus anderen Gründen ein Hakenkreuz an die Tafel gemalt. Die Polizei kam an die Schule und hat den Schüler gefragt: Was hast Du damit beabsichtigt? Und der antwortete: Ich wollte die Lehrerin ärgern. Und da sage ich als Innenminister: Das ist etwas anderes als eine politisch motivierte Straftat. Der Begriff Extremismus aber bedeutet, dass darauf abgezielt wird, die rechtsstaatliche Ordnung der Bundesrepublik zu beseitigen. Selbstverständlich wird dieser Fall in die polizeiliche Kriminalstatistik aufgenommen.

Zählen Sie denn in Mecklenburg-Vorpommern differenzierter?

Wir zählen differenzierter, weil wir eine differenzierte Herangehensweise an das Phänomen Rechtsextremismus praktizieren. In der Polizei beispielsweise haben wir die Mobile Aufklärungseinheit Extremismus installiert, die in allen fünf Polizeidirektionen mobil und auch permanent die Szene unter Druck setzt und für Verunsicherung sorgt. Außerdem konzentriert sich inzwischen der Verfassungsschutz auf den Bereich Rechtsextremismus. Wir haben leider einen deutlich und dezidiert gewaltbereiten Rechtsextremismus, der sich durch furchtbare Morde hervorgetan hat - zum Beispiel den an einem Obdachlosen in Ahlbeck im vorigen Jahr.

Es werden also in jedem Land Straftaten ganz unterschiedlich als rechtsextremes Delikt eingeordnet ...

Genau. Und ich möchte erreichen, dass wir eine Vergleichbarkeit bei der Zählweise herstellen. Denn das ist die Voraussetzung für ein exaktes politisches Lagebild. Es reicht nicht, eine pauschale Statistik zu veröffentlichen, mit der man aber keine Bekämpfungsstrategie gegen den Rechtsextremismus entwickeln kann.

Ist dann auch die bisherige Interpretation der Zahlen zu pauschal?

Eine weiterführende Interpretation hat noch nicht stattgefunden. Es wurde nur gesagt, die Zahlen sind schlimm. Das kann ich auch unterschreiben.

Aber die Zahlen werden ja doch benutzt, um den Rechtsextremismus wieder als vorrangig ostdeutsches Problem darzustellen. Genauso gut hätte sich Otto Schily die Zunahme der gewalttätigen rechtsextremistischen Straftaten insgesamt herauspicken können?

Und das hat er gerade nicht gemacht. Und deswegen sage ich: Wir brauchen ein differenziertes Lagebild Rechtsextremismus, um die Handlungsmaßstäbe und Handlungsoptionen des Staates auch sinnvoll und zielgenau einzusetzen. Bisher fehlen einheitliche Grundsätze, um den Rechtsextremismus im Bundesgebiet überhaupt vergleichen zu können. Die einen melden mehr, die anderen weniger.

Wie kann man zu solchen Grundsätzen kommen? Wer sagt, so und nur so wird gezählt.

Für die Aufstellung der polizeilichen Kriminalstatistik sind die Bundesländer zuständig, und ich hoffe, dass sich die Innenminister über einheitliche Maßstäbe einigen können.

Das Gespräch führte Jörn Kabisch

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