Kein Film ist allein

Verwandtschaften Das 21. Dokumentarfilmfestival FID in Marseille trägt die Handschrift der Kuratoren

Beim Internationalen Dokumentarfilmfestival in Marseille (FID) versteht man das „Dokumentarische“ am besten als Vorschlag, der zur Diskussion steht, und nicht als Kriterium, das die Grenzen der Filmauswahl festlegt. Mitten in Douglas Fairbanks’ Technicolor-Spektakel The Black Pirate (1926), den das Festival kostenlos und unter freiem Himmel zeigt, erinnert man sich an Sylvain Georges Wettbewerbsbeitrag Qu’ils reposent en révolte, der das Leben junger Klandestiner dokumentiert, die in Calais auf eine Passage nach England lauern.

Dabei geht es gar nicht um die Schiffe, die in beiden Filmen eine Rolle spielen, sondern um Farbe: Während Fairbanks die damals neue Farbigkeit zum Ruhm des eigenen Star-Körpers einsetzte, gerät George das körnige Schwarzweiß seiner Bilder zu einer problematischen Ästhetisierung des nackten Lebens, das er filmt. Farbe im Film kleidet die Bilder und spielt dabei mit Identitäten und Zuschreibungen. Gerade der Farbfilm hat uns gelehrt, den Farben zu misstrauen. Die nackten Fakten sind schwarz-weiß: ein merkwürdiges Paradox, das sich aber in die Ästhetik des Dokumentarfilms eingeschrieben hat.

Assoziationsketten sind das Gewebe eines Filmfestivals und sechs Tage FID sind voll davon. Das Programm hat eine starke kuratorische Handschrift, zeigt Filme aller Längen vom Einminüter bis zum Zwölfstünder und schlägt luftige Brücken in die Filmgeschichte. „Kein Film ist alleine auf der Welt“, sagt Festivalleiter Jean-Pierre Rehm. „Er hat Freunde, Widersacher, Schwestern und Cousins.“

Von Matthias Grünewald bis Walker Evans

Neben einem internationalen und einem französischen Wettbewerb umfasst das Programm eine Reihe kuratierter Nebenreihen, die so ehrgeizig und großzügig ausfallen können wie dieses Jahr die „Anthropofollies“: eine Verwandtschaftserkundung zwischen Anthropologie und Film voller Lust und Esprit, die als Hommage an den unlängst verstorbenen Claude Lévi-Strauss gedacht war und dabei kühne Bögen schlug. Von Jean Rouch zu Harmony Korine, von Jean-Luc Godard zum phillipinischen Autodidakten Kidlat Tahimik, vom thailändischen Kino-Erneuerer Apichatpong Weerasethakul zum Russen Artur Aristikisian, dessen 1993 gedrehter Film Palms hier zu entdecken war, ein dokumentarisches Gedicht über die Krüppel, Bettler und Irren von Chisinau, in das sich von Matthias Grünewald bis zu Baudelaire, Artaud und Walker Evans eine ganze Kulturgeschichte der Empathie hineingeschrieben hat.

Praca Maszyn (The Work of Machines) spielt in einer Industriestadt in Ostpolen und erzählt ohne Pathos von einem Leben nach der Arbeit. Die ins Leere gestikulierenden Hände eines ehemaligen Maschinisten sind ebenso Teil dieses Lebens wie die Sprechchöre der Hooligans in einem Fußballstadion; wie der Traum vom Fliegen, den die in der Stadt einst produzierten Sportflugzeuge genährt haben, die Tänze, an die sich die arbeitslosen Körper wieder erinnern, oder der Keyboarder, den die Monotonie der Musik an Moderne Zeiten erinnert: an die Maschine, die den Arbeiter an die Hand nimmt.

Die schöne und einfache Grundidee von Praca Maszyn ist, die Maschine als Choreografin zu sehen und nicht als Widersacherin des Menschen. Maschinen sind Verwandte, Nichten, Großmütter, Cousinen, in deren Physiognomie wir unsere wieder erkennen, die uns Geschenke machen und uns bisweilen bevormunden. Wie der Kinoapparat. Der 38-minütige Debütfilm wurde mit dem Hauptpreis des internationalen Wettbewerbs ausgezeichnet.

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