Kein Ohr für Spitzel

NSU Der Untersuchungsausschuss im Bundestag lehnt es ab, V-Leute zu befragen – mit abstrusen Begründungen
Ausgabe 25/2016

Sie sind Rechtsradikale und zugleich Informanten des Geheimdienstes. Ohne V-Leute ist der NSU-Mordkomplex nicht zu verstehen. Einer, der zur Zeit die Gemüter besonders erregt, heißt Ralf Marschner, war einst eine Neonazi-Größe im sächsischen Zwickau und lieferte gegen Bezahlung Informationen an das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), unter dem Decknamen „Primus“. Möglicherweise hat er den mutmaßlichen Rechtsterroristen und Mörder Uwe Mundlos bei sich in der Baufirma beschäftigt. Da herrscht Nachfragebedarf, auch beim Untersuchungsausschuss des Bundestages.

Wunsch nach Konsens

Doch die Fragen werden nicht direkt an Marschner gestellt. V-Leute sind anscheinend Sonderwesen, keine normalen Zeugen. Diese Haltung hat in diesem Ausschuss Tradition. Der aktuelle NSU-Untersuchungsausschuss hat noch nie einen V-Mann oder eine V-Frau befragt, der vorherige Ausschuss handhabte das genauso. „Wir wollen solchen Leuten keine Bühne bieten“, meint der momentane Vorsitzende Clemens Binninger (CDU). Soll heißen: Neonazis sollen im Bundestag keine Propaganda machen dürfen.

Doch die Annahme ist weder stimmig noch überzeugend. V-Mann „Corelli“ ist zum Beispiel über einen Zeitraum von 20 Jahren für den Verfassungsschutz tätig gewesen. Ist er vielleicht eher Geheimdienstler als Neonazi? Gehört wurde im Ausschuss lediglich Corellis V-Mann-Führer vom BfV, und zwar in nicht-öffentlicher Sitzung. Dort könnte auch ein V-Mann gehört werden – und mangels Publikum wäre keine Nazi-Propaganda möglich.

Einiges spricht dafür, dass Grüne und Linke gerne V-Leute laden würden, etwa Ralf Marschner. Doch in der Öffentlichkeit betonen die Abgeordneten immer wieder, dass sie im Konsens mit den anderen Ausschussmitgliedern arbeiten wollen. Für die Zukunft sei eine Befragung Marschners nicht ausgeschlossen, derzeit allerdings versuche man, über die Befragung anderer Leute mehr Licht in die Sache zu bringen. Für diesen Donnerstag sind etwa Zeugen geladen, die in der Vergangenheit über Kontakte Marschners zum Böhnhardt-Mundlos-Zschäpe-Trio berichtet haben.

Dass im Bundestag keine V-Leute angehört werden, verwundert – auch weil es in den Untersuchungsausschüssen der Landtage von Baden-Württemberg, Hessen und Nordrhein-Westfalen anders aussieht. Dort sind schon mehrere V-Männer als Zeugen aufgetreten. Rechtsradikale Propaganda hat niemand gemacht, im Gegenteil. Vielen V-Leuten waren die Auftritte eher unangenehm. Sie wollten ihr Erscheinen verhindern oder verschleppen. Den Ex-V-Mann Toni S. musste der Ausschuss in Düsseldorf sogar mit Hilfe der Polizei vorführen lassen. Der Vorsitzende Sven Wolf (SPD) hält es für notwendig, auch V-Leute zu laden. „Man muss sich ein eigenes Bild von ihnen machen und sie erleben.“ Und wenn jemand als Neonazi auftrete, erfahre man auch dadurch etwas über ihn.

Die V-Leute sind die unmittelbaren Zeugen. Sie, nicht ihre Führungsbeamten, bewegen sich an der Front. Damit sind sie für die Beweisaufnahme unverzichtbar, egal wie wahrhaftig sie letztendlich aussagen. Beispiel „Krokus“: Unter diesem Namen war Petra S. eine V-Frau des Verfassungsschutzes von Baden-Württemberg. Sie lebt heute im Ausland und behauptete per E-Mail, Angaben im Zusammenhang mit dem Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter machen zu können. Sie will Beate Zschäpe im Kreis anderer Personen getroffen haben. Ihr Quellenführer vom Landesamt widersprach. „Krokus“ sei erst nach dem Mord angeworben worden. Nun steht Aussage gegen Aussage. Der Beamte wurde mehrfach von den Ausschüssen in Berlin und Stuttgart befragt, „Krokus“ jedoch nie.

Eines haben die hauptamtlichen Quellenführer und ihre Schützlinge in der Regel gemein: die Scheu vor der Öffentlichkeit. Sie kommen oft unter Pseudonym zur Zeugenvernehmung, antworten verborgen hinter einer Wand oder in einem Nebenraum oder nur in nicht-öffentlicher Sitzung. Ähnliches gilt auch für den NSU-Prozess am Oberlandesgericht München. Ein Paradebeispiel lieferten der V-Mann „Piatto“ und sein V-Mann-Führer vom Brandenburger Verfassungsschutz. Beide wurden vom Gericht als Zeugen geladen und mussten nach anfänglicher Gegenwehr erscheinen. Doch sie beide durften sich bis zur Unkenntlichkeit verkleiden, mit Perücke, Kapuze, Mantel.

Ein solcher Auftritt hat, jenseits der inhaltlichen Aussagen dieser Zeugen, auch einen Informationswert. Mit Zeugenschutz hat er nichts zu tun, enttarnte V-Männer sind in der Szene schließlich bekannt. Aber er demonstriert: So gehen die Dienste mit der Öffentlichkeit um. Sie verstecken ihr Gesicht, verschleiern ihre Verantwortung. Ihre Glaubwürdigkeit könnte erschüttert werden, wenn ein V-Mann redet. Er ist die Schleuse zwischen außen und innen, ein Zwitterwesen.

Die Sitzungen des Bundestagsausschusses liefern zur Zeit jede Menge Argumente, den V-Mann Ralf Marschner als Zeugen nach Berlin zu zitieren. Marschner lebt in der Schweiz, das Bundeskriminalamt (BKA) konnte ihn dort nicht selbst befragen. Das tat in Amtshilfe ein Schweizer Staatsanwalt. Die deutschen BKA-Vertreter durften dabeisitzen, aber keine Fragen stellen. Er hätte schon noch einige Nachfragen an Marschner gehabt, räumte ein BKA-Ermittler gegenüber den Abgeordneten im Bundestag ein. Warum also nicht nachholen? Der Ausschussvorsitzende Binninger fragte den Vertreter der Bundesanwaltschaft: „Wollten Sie Marschner nicht irgendwann einmal selber vernehmen?“ Der Vertreter stimmte zu: Das sei nötig, aber auch umständlich mit einem Amtshilfeersuchen. Allerdings richtet sich die Frage Binningers eigentlich auch an den Untersuchungsausschuss selbst.

Opferanwälte als Vorbild

Doch die Abgeordneten wollen Marschner immer noch nicht befragen. Inzwischen haben sie ihre Argumentationslinie geändert. Man fürchte, von dem Zeugen vorgeführt zu werden, entweder durch Fernbleiben oder durch Auskunftsverweigerung. Allerdings wäre das nicht neu. Zahlreiche Beamte haben sich den NSU-Untersuchungsausschüssen verweigert, zum Beispiel durch ausgedehnte Erinnerungslücken. Und auch generell ist die Annahme merkwürdig, dass ein Ausschuss die Verantwortung für das Verhalten eines Zeugen trage.

Der Auftrag des Bundestagsgremiums ist klar formuliert: „Der Untersuchungsausschuss soll die Arbeit der Sicherheits- und Ermittlungsbehörden mit V-Personen, Informanten oder anderen Quellen im Umfeld der Terrorgruppe ‚Nationalsozialistischer Untergrund‘ aufklären.“ Marschner nicht befragen zu wollen, ist nicht nur ein mutwilliger, sondern auch ein fahrlässiger Umgang mit Zeugen. Der V-Mann Corelli starb, ehe er befragt werden konnte. Und möglicherweise, das wird gerade neu untersucht, wurde dabei nachgeholfen.

Im Münchner Prozess haben mehrere Opferanwälte der Nebenklage beantragt, Marschner als Zeugen zu vernehmen. Das lehnte der Staatsschutzsenat ab. Daraufhin kam es zu einem bisher einmaligen Schritt in diesem Verfahren. Mehrere Anwälte griffen mittels Gegenvorstellung die Entscheidung des Senates an, das Gericht muss die Ablehnung nun genauer begründen. Von einem „Aufstand der Nebenkläger“ sprach die Zeit. Die Opferanwälte wissen offenbar, was für ein wichtiger Zeuge Marschner ist – als Neonazi wie als Agent. Die Abgeordneten im Bundestag wissen das. Nur den letzten Schritt tun sie nicht.

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