Wir hoffen, dass jetzt auch jene Teile der Gewerkschaften, die noch Illusionen über diese Regierung hatten, sich aus dem Schatten der SPD lösen. Nur autonome Interessenvertretung hat noch eine Perspektive", meinte Peter Wahl vom globalisierungskritischen Netzwerk Attac nach dem SPD-Sonderparteitag. Ob sich diese Hoffnung erfüllen wird, war am vergangenen Sonntag noch nicht zu erkennen. Während die Parteitagsdelegierten unter den Augen amtierender Gewerkschaftschefs und ehemaliger Vorstände wie Franz Steinkühler (IG Metall) und Herbert Mai (ÖTV) über die sogenannte Reformagenda debattierten, demonstrierten vor dem Tagungshotel etwa 1.000 Gewerkschafter gegen den drohenden Sozialabbau.
Einer von ihnen, der Berliner IG Bau-Vorsitzende Lothar Näthebu
#228;thebusch, kritisierte den DGB-Vorstand, weil er sich nicht an der Protestaktion beteiligte und rügte insbesondere DGB-Chef Michael Sommer für dessen widersprüchliche Äußerungen im Vorfeld des Parteitags. Dass sich die Gewerkschaftschefs selbst einen Maulkorb anlegten - sie verabredeten, auf dem Parteitag nicht in die Debatte einzugreifen - irritierte den Baugewerkschafter: "Die können doch da drin nicht nur rumsitzen und schweigen." Auch Manfred Birkhahn von der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi sagte lautstark, dass Sommer "da drinnen nichts zu suchen hat". Ein Metaller aus dem Schwäbischen forderte sogar, "gründlich zu untersuchen", warum es nicht gelungen sei, mehr Menschen gegen die Schröder-Politik zu mobilisieren. "Wenn ich nichts sagen darf, dann kann ich auch zu Hause bleiben" hat sich wohl IG Metall-Chef Klaus Zwickel gedacht und ist dem Parteitag demonstrativ fern geblieben.Noch in der Woche zuvor hatten sich die deutschen Gewerkschaftschefs in Prag am Rande eines Kongresses des Europäischen Gewerkschaftsbundes zusammen gesetzt, um Missverständnisse auszuräumen und um die "Nach-Agenda-Zeit" zu besprechen. Der Pressesprecher des DGB erklärte ausdrücklich, das Treffen zwischen Michael Sommer und den Vorsitzenden der Einzelgewerkschaften "fand in guter Atmosphäre statt". Schadensbegrenzung heißt so etwas im PR-Jargon. Die war wohl dringend nötig. Denn rund um den Protesttag des DGB am 24. Mai war "einiges aus dem Ruder" gelaufen, wie diverse Gewerkschaftssprecher bestätigten, ohne dass sie mit diesen Satz zitiert werden wollten. An diesem Tag demonstrierten nach DGB-Angaben bundesweit auf rund 15 Veranstaltungen 90.000 Gewerkschafter gegen Schröders Agenda. Der Gewerkschaftsprotest habe bewirkt, so Michael Sommer, dass die "gröbsten Klötze" aus der Agenda verschwunden seien. Das sei zwar noch nicht befriedigend, aber immerhin. Bis zum Herbst werde man zunächst eine Protestpause einlegen. "Das sehen wir nicht so", verlautete dagegen aus der IG Metall. Bereits vor dem Protesttag hatten Zwickel und Verdi-Chef Frank Bsirske Sommer überredet, ein Treffen mit Schröder im SPD-Gewerkschaftsrat abzusagen. Tage später meldeten sich andere Vorsitzende zu Wort: Norbert Hansen von der Eisenbahnergewerkschaft Transnet, Franz-Josef Möllenberg von der Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG) und Hubertus Schmold von der IG Bergbau, Chemie, Energie (BCE) boten der Bundesregierung Gespräche an. Man werde sich mit dem "Ziel der nachhaltigen Sicherung des Sozialstaates und der Fortentwicklung der Marktwirtschaft" am notwendigen Reformprozess beteiligen, so die gemeinsame Erklärung. Daraufhin hatte Sommer die Gewerkschaften zur Geschlossenheit aufgerufen. Aus der IG Metall war zwar nachfolgend zu hören, es gebe keine Differenzen, nur "in der Tonlage" gewisse Unterschiede. Dennoch blieb der Erfolg beziehungweise Misserfolg des DGB-Protesttages umstritten. Die 90.000 seien ein guter Anfang, meinten die einen, andere hingegen, mit einer solchen Zahl könne man keinen Druck aufbauen.In Prag wurde schließlich verabredet, dass keiner der geladenen Gewerkschafter beim Parteitag ans Rednerpult geht. Die Chefs schwiegen dann auch beharrlich. Selbst in der Presselobby konnten Journalisten nur belanglose Gespräche führen. Nach der Schlussabstimmung war es dann Sommer vorbehalten, die Lage einzuschätzen. "Ich habe nicht erwartet, dass der Parteitag anders ausgeht", so seine nüchterne Bilanz. Die Einzelabstimmungen über die Bereiche Arbeitsmarkt und Sozialsysteme hätten zumindest gezeigt, dass "die Partei mit sich kämpft". Er fürchte, dass die wirtschaftlichen Rahmendaten, die der Agenda zu Grunde liegen, "bald Legende sein werden". Entgegen früheren Äußerungen sagte Sommer, "die dicksten Brocken sind nicht aus dem Weg geräumt", und fügte dann einschränkend hinzu, "hier und da hat es geringfügige Korrekturen gegeben". Nun werde der DGB die parlamentarischen Beratungen begleiten. Je nach dem, wie die Agenda im Einzelnen umgesetzt wird, könne der DGB der aktuellen Lage entsprechend reagieren. Sommer: "Dieses Land muss in eine Reformdebatte einsteigen. Wir brauchen eine Reform des Sozialstaates, aber keinen weiteren Sozialabbau." Dazu gehöre auch, endlich eine "vernünftige Debatte über ökonomische Rahmenbedingungen" zu führen. "Wenn die Diagnose falsch gestellt ist, wirkt die verabreichte Medizin kontraproduktiv."Unter dem Titel "Mut zum Umsteuern" gibt es nun ein Diskussionspapier, mit dem der DGB in die Debatte über eine "wirtschafts- und sozialpolitische Reformagenda" eingreifen möchte. Insgesamt enthält das Papier eine Fülle von Einzelmaßnahmen, die geeignet sein könnten, einen Ausweg aus der Krise zu finden. Einleitend wird festgestellt, dass sich die "konjunkturpolitische Untätigkeit" der Bundesregierung seit dem Jahr 2001 rächt und deshalb die Konsolidierungsbemühungen für den Bundeshaushalt konterkariert werden. Zudem dürften Ursachen und Wirkung der ökonomischen Krise nicht verwechselt werden. "Die Krise ernährt sich selbst", schreiben die Autoren. Während Steuereinnahmen einbrechen und der Staat auf Grund der Sparpolitik als "aktiver Nachfrager ausfällt", gerieten die sozialen Sicherungssysteme immer mehr unter Druck.Die grundsätzliche Reform der Finanz- und Wirtschaftspolitik wird dann auf 27 eng beschriebenen Seiten dargestellt. Der DGB setzt sich für eine mittelfristige Senkung der Sozialabgaben um 8,5 Prozent ein, um lohnintensive und auf den Absatz im Inland angewiesene Betriebe zu entlasten. Dadurch stünden Unternehmern und Arbeitnehmern eine Summe von 50 Milliarden Euro zur Verfügung, die unweigerlich Investitionen und Konsum ankurbeln würden. Voraussetzung sei allerdings, dass die sozialen Sicherungssysteme von allen versicherungsfremden Leistungen befreit würden. Durch mehr Effizienz und Wettbewerb im Gesundheitswesen - beispielsweise Vermeidung von Doppeluntersuchungen, durch abgestimmte Therapieschritte und mehr interdisziplinäre Arztpraxen - sieht der DGB ein Einsparpotenzial von 25 Prozent. Weiter wird die Einführung eines Freibetrages in der Sozialversicherung vorgeschlagen. Erst ab 251 Euro monatlich sollen Arbeitnehmer und Arbeitgeber in die Sozialkasse einzahlen. Das hört sich alles gut an, und doch bleibt die Frage: Wer vermittelt die Konzepte dem Volk? Eines müssten die Gewerkschaften nach den Fehlschlägen der vergangenen Wochen begriffen haben: Wenn sie ihre Öffentlichkeitsarbeit nicht entscheidend verbessern, werden sie die Menschen nicht erreichen.
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