Kein Schuss aus der Hüfte

Bulgarien Nach gewissen Irritationen ist der patriotische Konsens über die eigenen Soldaten im Irak wieder erblüht

In Politikseminaren an den Universitäten nennt man es band waggoning und meint die Sucht kleiner Staaten, auf einen fahrenden Zug zu springen und den Kurs zu halten, der ganz vorn von der großen Lokomotive vorgegeben wird. Um diesem Hang zu folgen, sitzen die Passagiere der "Neuen Europa"-Klasse diszipliniert und still in den hinteren Abteilen, auch wenn der Zug ziellos durch verwüstete Landschaften schleicht. Selbst nach einem dreiviertel Jahr Irak-Einsatz ist daher im bulgarischen Waggon die Welt bis auf weiteres in Ordnung. Sie wird sogar immer besser. Die "systematische Partnerschaft" mit den USA, die Oberst Valeri Ratschew, strategischer Vordenker der bulgarischen Armee, unverdrossen rühmt, hat Sofia schon vor fünf Jahren während des Kosovo-Krieges und lange vor dem 11.September 2001 bereitwillig gesucht. Sie sei, so Ratschew, durch den Irak nur gewachsen: "Das war kein Schuss aus der Hüfte, keine one-shot-policy". Nicht umsonst erhalte Bulgarien Ende des Monats beim NATO-Gipfel in Istanbul gewissermaßen die letzte Ölung - den Beitritt in die Allianz - mit Brief und Siegel aus der Hand des US-Präsidenten.

Im Juli 2003 hatte die Verlegung eines leichten Infanteriebataillons (450 Mann) in die südirakische Stadt Kerbala zunächst keinerlei Debatten in der Öffentlichkeit ausgelöst. Erst als es im Dezember einen Bombenanschlag auf das bulgarische Hauptquartier gab, wachte das Land auf. Fünf bulgarische Soldaten kamen damals ums Leben, ein sechster starb vor Wochen bei Gefechten mit schiitischen Milizen. "Was machen wir eigentlich dort unten?", fragten nun viele Bulgaren schockiert. "Geld verdienen", lautete die prosaische Antwort der Hinterbliebenen. 60 Dollar Tagessold - die Regierung erhöhte ihn mittlerweile auf 80 - waren ein stichhaltiges Argument für den Einsatz als Statist und Knappe im amerikanischen Irak-Abenteuer. Mitten im Stück über eine trutzige Besatzungskoalition der Willigen ging plötzlich der Vorhang für den Akt "die soziale Wirklichkeit eines Balkanstaates" hoch.

Doch tat die Armeeführung alles, um öffentliche Kontroversen über Sinn und Zweck des Irak-Engagements abzuwürgen. Das ursprüngliche Mandat zur Friedenssicherung decke sich nicht mit der realen Lage im Südirak, räumten die Generäle gern ein - eine Entsendung von Kampftruppen unter einem neuen Mandat sei jedoch unmöglich. "Wie kann die Präsenz unserer Soldaten trotzdem sicherer werden? Wie tragen wir zum Erfolg dieses Feldzuges bei?" lauteten die Fragen und beschworen die Antwort herauf: "Pragmatische Entscheidungen sind gefallen: der Sold wurde erhöht. Es wird eine bessere Unterrichtung des bulgarischen Korps durch das polnische Oberkommando über die Bewegungen feindlicher Kräfte in Kerbala geben - auch über Anzeichen möglicher Attentate."

Den derart sanierten patriotischen Konsens, der seither für das Thema bulgarische Soldaten im Irak wieder gilt, hat die Enthüllung der Folterpraktiken von US-Soldaten nicht im Geringsten erschüttern können. Niemand zerbricht sich in Sofia den Kopf über Genfer Konventionen oder die Moral der Bush-Regierung. Fernsehen und Zeitungen beschäftigen sich zur Zeit weit mehr mit dem Todesurteil gegen fünf bulgarische Krankenschwestern in Libyen, die angeblich bewusst mehrere hundert Kinder mit Aids infiziert haben und ohnehin schon seit Jahren im Gefängnis in Benghasi sitzen. Die schamlosen Souvenirfotos der US-Soldaten aus dem Abu-Ghraib-Gefängnis haben die Abendnachrichten ebenso gezeigt wie - in aller Länge - die Enthauptung des US-Geschäftsmannes Nicholas Berg. "Vielleicht eine Frage der Mentalität", sagt Valeri Ratschew. "Für die Leute auf dem Balkan ist das eben das schmutzige Gesicht des Krieges."


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