Ich fahre mit dem Rad zur Arbeit an den Hegelplatz. Das ganze Jahr. Im Sommer wie im Winter. Jetzt ist Sommer, und im Gegensatz zum Winter fahren jetzt sehr viele Menschen Rad. Ökologisch ist dieser Trend natürlich zu begrüßen. Die Gattung Mensch wirft er allerdings zurück. Es ist schon oft beschrieben worden, wie der Mensch als Radler – ähnlich dem moralisch scheinbar so unterlegenen Autofahrer – den „dünnen Firnis der Zivilisation“ (Huxley) durchbricht und zum Pöbler wird. In diesem Zusammenhang ist der „Kampfradler“ hinlänglich beschrieben und zur Katastrophenfigur erklärt worden.
Aber wie steht es eigentlich um die Masse der Radfahrer? Ist sie gut? Ist sie aufgeklärt? Nein. Viele ganz normale Radfahrer fahren nach eigenen Regeln, was so viel heißt wie: nach gar keinen. Und sie kommunizieren diese „Regeln“ oft auch nicht vernünftig. Ein Beispiel: Ein schon etwas älterer, aber durchaus vitaler Radler überholt mich, kommt an eine Kreuzung mit einer Seitenstraße. Ein Auto, das parallel zum Radler auf der Schönhauser Allee fährt und in die Seitenstraße abbiegen will, stoppt korrekt und lässt dem Radler den Vortritt – zum Dank kriegt der Autofahrer den Stinkefinger gezeigt. Als Zeuge einer solchen Szene kann man nicht schweigen, und so nutze ich die Wartezeiten an Ampeln (dazu gleich mehr) häufig, um der Zivilität im Straßenverkehr zum Durchbruch zu verhelfen. Ich spreche also den Radler an und weise ihn oder sie auf ein unmögliches Verhalten hin, manchmal stelle ich mir dazu vor, dass ich einen Ausweis zücke, der mich als Polizisten ausweist.
So nun auch beim Radler mit dem Stinkefinger. „Warum zeigen Sie einem Autofahrer, der nichts Böses getan hat, den Stinkefinger? Auch wir Fahrradfahrer ...“ Weiter kam ich nicht, denn, so der Radler: „Das war kein Stinkefinger. Es war der Achtungfinger!“ Und weg sauste er. Was soll man sagen? Ein „Achtungfinger“ (Google: null Einträge), den man so nicht versteht, führt nur zu Verwirrung und zusätzlichem Stress. Signale im Verkehr müssen eindeutig sein. Immerhin: Jener Radfahrer hielt an der Ampel. Viele tun das nämlich nicht und sie tun es gleich gar nicht an den Fahrradampeln. Etwas weiter oben auf der Schönhauser Allee steht eine solche Fahrradampel, sie schaltet auf rot, wenn die Fußgänger grün haben. Als Radler ist es gefährlich, dort zu halten. Man läuft Gefahr, von seinen Mitradlern überfahren oder wenigstens übel angemacht zu werden; vor allem wenn man auf der Überholspur hält, wird das als reine Provokation betrachtet. Ich fühle mich an dieser Ampel oft sehr einsam. Dann zähle ich die Fahrradfahrer, die durchrasen, und die, die warten, und schwöre mir, dass ich das Unrecht öffentlich beklagen werde, was hiermit geschehen sei.
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