Auf die Umfragen kann man sich auch nicht mehr verlassen, es geht fast so postfaktisch zu wie sonst in der politischen Debatte, für jeden ist etwas zum Aussuchen dabei. Beispiel Nordrhein-Westfalen: Drei Wochen vor der Landtagswahl am 14. Mai prognostizierte Infratest dimap einen Gleichstand zwischen SPD und CDU (34 zu 34 Prozent), fünf Tage später sah Forsa die SPD mit sechs Punkten Abstand (35 zu 29) vorn. Die einzige Konstante scheint die Beliebtheit von Bundesaußenministern zu sein, die selbst dann wohl ungebrochen wäre, wenn man den Job an Dieter Bohlen oder die Zapfsäule von nebenan übertrüge: Seit Sigmar Gabriel im Auswärtigen Amt sitzt, haben ihn die Leute genauso lieb wie Martin Schulz.
Kein Wunder, dass die Schlagzeilen vor den Wahlg
n Wahlgängen in Schleswig-Holstein am Sonntag und eine Woche später an Rhein und Ruhr fast durchweg eine Botschaft verkündeten, vor allem mit Blick auf die Bundestagswahl am 24. September: Der „Schulz-Effekt“ sei verpufft.Nicht mehr als FarbenspieleTatsächlich lässt sich das dann doch nicht nur aus der Beliebtheitsskala des Politbarometers schließen, sondern bei aller Vorsicht auch aus den Umfragen zu den Landtagen in Düsseldorf und Kiel. Die Werte der SPD gehen zurück. Selbst der „Küsten-Koalition“ an Nord- und Ostsee (SPD, Grüne, Südschleswigscher Wählerverband) droht die Mehrheit verloren zu gehen, trotz starker Grüner mit dem beliebten Umweltminister Robert Habeck an der Spitze.Wer die Entwicklungen allerdings auf das Thema Martin Schulz reduziert, wird der Gemengelage knapp fünf Monate vor der Bundestagswahl nicht gerecht. Sie ist so kompliziert, dass die allereinfachste Lösung immer im Hintergrund droht: Große Koalition, in den Ländern wie im Bund. Je vielfältiger die Parteienlandschaft erscheint, desto eintöniger droht das politische Farbenspiel zu werden.Möglich, dass es Ausnahmen geben wird. In Schleswig-Holstein wirbt CDU-Spitzenkandidat Daniel Günther für ein „Jamaika“-Bündnis mit FDP und Grünen. Aber selbst wenn es Wirklichkeit würde, hinge das mit den speziellen Verhältnissen an der Küste zusammen. Dort haben nicht nur die Grünen einen Habeck, sondern die FDP kann mit ihrem zweitwichtigsten Showmaster nach Christian Lindner punkten, nämlich Wolfgang Kubicki.Letzteres trifft übrigens in NRW ganz ähnlich zu, wo Lindner seine Heimat hat, während die Grünen in Düsseldorf dem Bundestrend folgen und sogar den Rauswurf aus dem Parlament befürchten müssen. Was die möglichen Erfolge in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein für die FDP im Bund bedeuten, ist damit allerdings längst nicht ausgemacht.Ob Schwarz-Rot oder Jamaika: Wenn nicht auch die wenigen stabilen Trends aus der Wahlforschung trügen, dürften die beiden Landtagswahlen am 7. und 14. Mai alles andere werden als Signale für einen Neuaufbruch in der Bundespolitik. Ob Hannelore Kraft ihren Amtsbonus ins Ziel rettet oder Armin Laschets CDU sie noch überholt; ob Torsten Albigs SPD in Kiel den Abwärtstrend wieder dreht oder nicht: Alles ist wahrscheinlicher, als dass in Kiel und/oder Düsseldorf der Startschuss fällt für Rot-Rot-Grün im Bund.Es wäre wie gesagt verfehlt, die trübe Aussicht auf die nächste Runde im bundespolitischen „Weiter so“ allein auf den neuen SPD-Vorsitzenden und seinen mehr oder weniger starken „Effekt“ zurückzuführen. Die Entwicklungen und die Fehler, die zur relativen Aussichtslosigkeit eines spürbaren Politikwechsels geführt haben, sind viel älter als die Kanzlerkandidatur von Schulz. Und der ist eher Repräsentant als Ursache der bleischweren „Alternativlosigkeit“, die sich in Jamaika-Bündnissen nicht weniger manifestieren würde als in Großen Koalitionen. Wer verfolgt hat, wie Schulz nach der Saarland-Wahl auf die dritte Weiter-so-Variante „Ampelkoalition“ umschaltete, vermag einzuschätzen, wie gut der Kandidat in die Tradition sozialdemokratischer Mutlosigkeit passt.Zum Gesamtbild allerdings gehört viel mehr. Es gehört dazu der Aufstieg der AfD, bei der niemand sich darauf verlassen sollte, dass sie sich noch vor dem 24. September zerlegt. Es gehört dazu der Abstieg der grünen Partei. Es gehört dazu eine häufig zerstrittene Linke, die noch dazu gegen die Rechtsextremisten um das Protestpotenzial in der Wählerschaft streiten muss. Und schließlich gehört zum trüben Gesamtbild auch die Tatsache, dass eine Wechselstimmung in der Gesellschaft weit und breit nicht in Sicht ist.All diese Aspekte stehen miteinander in einem engen Zusammenhang, und in der Summe lässt sich sagen: Dass der Wechsel hin zu einem Reformbündnis in der Wählerschaft wenige Freunde hat, erstaunt kaum. Schließlich hat das politische Führungspersonal auf der rot-rot-grünen Seite seit Jahren nichts getan, um die Hegemonie des modernisierten Neoliberalismus nach dem Modell Merkel in der öffentlichen Debatte zu brechen.Merkels Credo: Uns geht’s gutDie SPD steckt in der selbstgewählten Gefangenschaft der Großen Koalition. Sie ist vor allem mit dem Spagat beschäftigt, ihre punktuellen Erfolge in der laufenden Legislaturperiode als großartige Errungenschaften zu verkaufen und zugleich den Leuten weiszumachen, beim nächsten Mal werde es dann aber echte Fortschritte geben: Bürgerversicherung, Bekämpfung grundlos befristeter Jobs, mehr Steuergerechtigkeit und so weiter und so fort.Die Grünen haben sich derart heftig am staatstragenden Öko-Konservatismus des Kretschmann-Flügels berauscht, dass sie das Entscheidende gar nicht bemerkten: Eine Partei, die mit großer Hingabe ans Regieren denkt und dabei ihre Tradition als öko-soziales Korrektiv zu einem oft zerstörerischen Kapitalismus vergisst, mag einen Ministerpräsidentenposten ergattern. Aber inhaltlich macht sie sich für viele Wählerinnen und Wähler überflüssig.Die Linke hat ihre Uneinigkeit über die Sinnhaftigkeit von Koalitionen und ihren Streit in vielen Sachfragen (EU, Russland und andere) nie wirklich ausgetragen. Sie hat ihr innerparteiliches Patt in der flügelübergreifenden Fraktionsspitze Bartsch/Wagenknecht fixiert, statt notfalls im Streit eine erkennbare gemeinsame Position zu Rot-Rot-Grün zu entwickeln.Natürlich weiß niemand, ob die gesellschaftliche Stimmung zu wenden gewesen wäre, hätten diese drei Parteien den Wechsel rechtzeitig zu ihrem Projekt gemacht. Vielleicht sind ja die Bewegungen an der „Basis“, die dem Merkel’schen „Uns geht’s gut“ zahlreiche Reformnotwendigkeiten entgegenhalten, schlicht und einfach zu schwach. Aber der Nicht-Versuch der rot-rot-grünen Parteien, an dieser Stimmungslage etwas zu ändern, ist und bleibt sozusagen strafbar.Wie die Strafe aussieht, zeichnet sich schon vor den beiden Landtagswahlen ab: Die Union ist dabei sich zu berappeln, seit sie Deutschland erfolgreich wieder abgeschottet hat. Die AfD könnte der Linken (und auch der SPD) entscheidende Proteststimmen wegnehmen, wie es bereits in Mecklenburg-Vorpommern im vergangenen Herbst geschehen ist. Und die einzig spannende Frage könnte am Ende sein, ob die SPD oder die Grünen als Juniorpartner der Union den Stillstand weiter verwalten dürfen.Placeholder link-1