Kein Weiter-so-Mandat

Rot-Grün nach der Wahl Die alte, neue Regierung sollte sich keinen Illusionen hingeben. Eine grundlegende Wende in der Politik ist unverzichtbar

Die Bundestagswahl ist vorüber, Rot-Grün hat eine hauchdünne Mehrheit über die Ziellinie gerettet. Die Union gewann kräftig, die FDP gering hinzu und die PDS verfehlte die Fünfprozent-Hürde. Aus gewerkschaftlicher Sicht ruft dieses Wahlergebnis gemischte Gefühle hervor. Zunächst das Positive: Eine schwarz-gelbe Koalition mit einem Kanzler Stoiber und der damit zu erwartenden Politik des Tarif- und Sozialabbaus bleibt uns erspart. Für die marktradikalen und antisozialen Politikkonzepte der FDP blieb die Zustimmung hinter dem Maß zurück, das zu befürchten war. Und schließlich fanden rechtsextreme Parteien und rechtspopulistische Tendenzen trotz schwieriger Wirtschaftslage und Massenarbeitslosigkeit keine breite Resonanz. Das alles ist gut so.

Doch zu ungetrübter Freude besteht wahrlich kein Anlass. Die Union verfehlte die Mehrheit durch ihr schlechtes Ergebnis in den neuen Bundesländern, und die Bundesregierung verdankt ihren Wahlsieg dem Zuwachs von über 800.000 Stimmen auf Seiten der Grünen. Für die SPD sollte ihr Abschneiden eher Anlass zur Sorge als zur Selbstzufriedenheit sein. Sie verlor nahezu 1,7 Millionen Stimmen, davon alleine fast 500.000 in Bayern, vor allem an die CSU. Im Stammland Nordrhein-Westfalen gingen nahezu 600.000 Stimmen zu nicht unerheblichen Teilen aufgrund von Wahlenthaltungen verloren. Diese Verluste reichen bis weit hinein in jene Arbeitnehmerschichten, die sich noch 1998 für einen Regierungswechsel unter sozialdemokratischer Führung mobilisieren ließen.

Die rot-grüne Koalition, vor allem aber die SPD sollte sich keinen Illusionen hingeben. Der knappe Wahlsieg ist kein Weiter-so-Mandat. Wahlenthaltungen und Abkehr vieler ArbeitnehmerInnen signalisieren die tiefe Enttäuschung insbesondere über die Wirtschafts- und Sozialpolitik der letzten Jahre. Eine grundlegende Wende in der Politik ist unverzichtbar, sollen sich Unzufriedenheit und Enttäuschungen nicht ausweiten und verfestigen.

Was jetzt vordringlich ist, liegt auf der Hand. Eine offensive, beschäftigungsorientierte Wirtschafts- und Finanzpolitik, die öffentliche Investitionen in Infrastruktur, Forschung und Bildung erhöht und zugleich die Einnahmesituation der öffentlichen Hand durch eine angemessene Besteuerung von Kapitalgesellschaften, Erbschaften und Vermögen verbessert. Eine soziale Arbeitsmarktreform, die auf Leistungskürzungen und Repressalien gegen Arbeitslose verzichtet und die Vermittlung von Arbeitslosen beschleunigt und die Förderung neuer Arbeitsplätze intensiviert. Und nicht zuletzt eine solidarische Gesundheitsreform, die Abstand von weiteren Belastungen der Versicherten und Patienten und einer Aufweichung des einheitlichen Leistungskataloges nimmt und zugleich auf eine Erweiterung des versicherten Personenkreises und die Durchsetzung harter Qualitätsstandards in der medizinischen Versorgung drängt.

Der anstehende Koalitionsvertrag zwischen SPD und Grünen wird erste Hinweise geben, ob die neue Bundesregierung diesen Weg einschlägt. Die Gewerkschaften tun jedenfalls gut daran, entschlossen für einen solchen Politikwechsel einzutreten. In Gesprächen mit Parlamentariern und Regierungsvertretern, aber - wenn notwendig - auch in öffentlichkeitswirksamerer Form. Dass die PDS als linke, parlamentarische Kraft ausfällt, macht die Sache nicht leichter. Ihr missglückter Wiedereinzug in den Bundestag in Fraktions- oder Gruppenstärke stellt ein Debakel für die Linke dar. Doch auch hier sind schnelle Antworten fehl am Platz. Bonus-Meilen und Gysi-Rücktritt mögen ihren Anteil an der Wahlniederlage haben. Aber entscheidender dürfte sein, dass die PDS auch in Ostdeutschland von immer weniger Menschen als außerparlamentarische, soziale Oppositions- und Reformkraft wahrgenommen wird. Vielleicht könnte der Versuch, durch eine tiefere Verankerung in den sozialen Bewegungen und Initiativen neue reformpolitische Anziehungskraft zurückzugewinnen, ein erster Schritt in die richtige Richtung sein.

Horst Schmitthenner ist geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall und Mitglied der "Initiative für einen Politikwechsel"

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