Keine Adresse, keine Durchwahl, kein Fax

Hartz IV kafkaesk Herr W. erfährt, was er noch wert ist, im Leben und danach (Teil II)

Wie ein Geschäftsführer namens Klaus-Dieter Teufel und die Sachbearbeiterin Satan in das Leben des langzeitarbeitslosen Herrn W. einbrachen, hat Wolfgang Ratzel vor sechs Wochen beschrieben (s. Freitag 43 vom 15.10.) Mittlerweile ist einiges passiert, zunächst ganz ruhig, aber dann doch überraschend und schockierend.

Kaum hat Herr W. seinen Antrag auf Arbeitslosengeld II abgegeben, kehrt die gewohnte Ruhe in sein Leben ein. Nichts geschieht - wochenlang. Kein amtlicher Brief erreicht ihn, keine freundliche Stimme erinnert ihn an die nächste Gruppeninformation. Manchmal denkt er verzagt: Ist es die Ruhe vor dem Sturm? Aber kein Sturm erhebt sich. Und dennoch: Alles ist anders. Herr W. teilt seine Lebenszeit neu ein. Plötzlich gibt es wieder ein Vorher und ein Nachher - genau wie vor zehn Jahren. Damals stellte er seinen Antrag auf Arbeitslosengeld; 23 Jahre Lohnarbeitszeit gingen zu Ende. Damals überkam ihn Aufbruchsstimmung zu neuen Ufern. Und heute? Etwas Unbestimmbares hat ihn besetzt - Angst. Aber wovor?

Düster klingt vor allem das Wort "Arbeitsgelegenheit". Es ist für immer verknüpft mit der warnenden Stimme von Frau Satan, die ihm im September im Namen einer gewissen "bbw Akademie" einen 1,5-Euro-Job angeboten hatte: "Jetzt können Sie noch wählen - aber nach dem 1.Januar müssen Sie nehmen, was wir Ihnen bieten." Er will unbedingt seine Arbeitsvermittlerin sprechen. Herr W. greift zum Hörer, hört aber immer wieder nur das Besetztzeichen. Die Zentrale ist ratlos. Dann plötzlich das Freizeichen, aber sie meldet sich nicht. Herr W. gibt nicht auf, und irgendwann ertönt die Stimme seiner Arbeitsvermittlerin - matt, erschöpft, abwesend: "Um was geht es Ihnen?" - "Ich muss Sie sprechen, seit 14 Tagen versuche ich, Sie zu erreichen; es ist dringend." - "14 Tage? Sie müssen entschuldigen; Hartz IV, Schulungen, Gruppeninformationen; ich war selten da. Geht es telefonisch?" - "Nein, ich bitte um einen Termin." - "Kommen Sie am Dienstag, 10 Uhr - kommen Sie direkt zu mir."

Als Herr W. das gewohnte Büro betritt, erkennt er sie kaum: Verschattete Augen, zusammengesunken, fertig. Er fasst sich kurz: "Ich muss hinzuverdienen und weiß, was ich arbeiten will. Sagen Sie mir bitte, welcher Träger in Frage kommt - als ABM-Stelle, wenn´s geht." Herr W. schiebt einen Zettel über den Tisch, auf dem eine Stellenbeschreibung geschrieben steht, von ihm verfasst, seine Stelle in dieser Gesellschaft. Sie überfliegt die Zeilen - unbewegt. Er hält den Atem an. "Sehr schön. Aber ich muss Ihnen sagen: ABM-Stellen werden hinsichtlich Höhe des Gehalts und Anzahl stark zurückgefahren und ... (sie zögert, es ist ihr peinlich) ... auf Bezieher von Arbeitslosengeld I beschränkt, in der Regel, versteht sich. Und Sie haben auch niemals Anspruch auf eine bestimmte ABM-Stelle."

Herr W. glaubt, eine schwere Eisentür zukrachen zu hören. Jetzt begreift er, dass er ein Erwerbsloser zweiter Klasse ist. Er wird nicht mehr eines Arbeitsvertrages für würdig befunden. Leise fragt er: "Was soll ich tun?" - "Für Sie gibt es nur die Option Arbeitsgelegenheiten! Vielleicht kann ich Ihnen helfen, wenn Sie einen Träger für Ihre Stelle finden. Oder kommen Sie nächstes Jahr, dann suchen wir zusammen einen Träger." Zum Abschied fasst sich Herr W. nochmals ein Herz: "Werde ich Anspruch auf Urlaub haben?" - "Ich weiß es nicht."

Eines Morgens gerät Herr W. unversehens in eine Fragestunde zum Arbeitslosengeld II. Auf seinem Radiosender antworten vier Spezialisten der "Regionalagentur für Arbeit". Herr W. horcht auf. Das sind nicht irgendwelche selbsternannten Ratgeber, das sind Leute, die sich auskennen. Welch eine Vielfalt der Probleme: Übereignete Häuser, Kleingärten, Freizeitgrundstücke, angemessene Autos, volljährige Söhne, Haustiere und Krankengeld. Herr W. erfährt zum Beispiel, dass Tiere nicht von der Arbeitsagentur unterstützt werden. Und er hört, dass seine Erbinnen das Arbeitslosengeld II der letzten zehn Jahre aus seinem Erbe zurückzahlen müssen. Herr W. erstarrt auf seinem Küchenstuhl. Man kann ihm vielleicht einreden, dass es rechtens und gerecht sei, ihn zu Lebzeiten zum armen Mann zu machen - aber ihm nach seinem Tod alles wegzunehmen, was trotz alledem übrig bleibt - das erscheint Herrn W. wie Leichenfledderei und Totenschändung.

Um ihn zu verstehen, muss man wissen, dass es für Herrn W. eine Frage der Ehre ist, der Gesellschaft nicht zur Last zu fallen. Herr W. rechnet so: Wenn er seine Notreserve von 5.500 Euro ungefähr halten kann, bleiben abzüglich der Beerdigungskosten vielleicht 3.500 Euro übrig. Er ginge also mit schwarzen Zahlen in die "Ewigen Jagdgründe" ein. Diese Gewissheit ist ihm äußerst wichtig. Und er schmunzelt bisweilen bei der Vorstellung, wie seine Erben - im Angedenken an ihn - wenigstens einmal in Saus und Braus schlemmen und prassen. So ist es von ihm verfügt, so soll es sein. Und nun reicht sein Erbe gerade einmal für die Erstattung von fünf Monaten Arbeitslosengeld II. Herr W. würde in der Sekunde seines Todes zum ewigen Schuldner werden. Zum ersten Mal hasst Herr W. diejenigen, die solches verfügen.

Dann fragt eine Frau im Radio, ob es künftig erlaubt sei, in Urlaub zu fahren. Das Blut schießt ihm in den Kopf - seine ureigenste Frage. Die Spezialistin zögert: Urlaub, ja, aber Dauer unklar. Und: "Bei einer Reise gilt laut Sozialgesetzbuch II, dass der Urlaub in Deutschland zu nehmen ist. Wer ins Ausland fährt, erhält keine Leistungen." Die Frau hakt nach, das Wort "Reisefreiheit" fällt. Dann die Beschwichtigung: "Vielleicht werden künftig Reisen in die EU erlaubt, derzeit aber nicht." Herr W. fühlt sich gründlich enteignet.

Der Bekanntenkreis von Herrn W. war nie groß, und über die Jahre verloren sich die Wenigen. Für seine Geburtstagsfeier reichen inzwischen vier Stühle. Was machen eigentlich die Anderen? Plötzlich interessiert ihn das wieder. Er fragt nach. Einer von denen, die er lange nicht gesehen hat, sagt: "Ich mache eine Suppenküche auf, als Ich-AG", und er kenne noch jemanden, der eine Boutique für Kinderkleidung eröffne, und schließlich jemanden, der würde sich sogar scheiden lassen, um Geld zu erhalten. Sein Freund aus alten Tagen spricht voller Elan, doch der Funke springt nicht über. Herr W. bleibt skeptisch: Wer denn seine Suppen kaufen würde, und ob er schon ausgerechnet habe, wie viele Suppen er verkaufen müsse, um werktäglich 40 Euro zu verdienen - und er meine mit Verdienen nicht den Umsatz, sondern den Reinverdienst abzüglich aller Kosten. Schweigen. Zum ersten Mal bedenkt Herr W., was er eigentlich zu verkaufen habe.

Seinen Antrag auf Arbeitslosengeld II bekommt er am 26. Juli. Zehn Wochen braucht er, um ihn schließlich am 6. Oktober abzugeben. Am 18. November reißt er einen Brief des JobCenters auf. Aber es ist kein Jobangebot, es ist der Bescheid: 345 Euro für seinen Lebensunterhalt zuzüglich 315,11 Euro für Unterkunft und Heizung. Damit sinkt sein monatliches Einkommen um 141,22 Euro. Herr W. schaut sich den Bescheid nun genauer an. Je mehr er liest, desto deutlicher spürt er die Wiederkehr der alten Unruhe. Warum schreibt ihm ein JobCenter und nicht mehr die Agentur für Arbeit? Weshalb hat dieses JobCenter keine Adresse, sondern nur ein Postfach? Wie soll er in einem Postfach jemals wieder seine Arbeitsvermittlerin sprechen? Beruhigend ist zumindest, dass das Postfach die gewohnten Öffnungszeiten anbietet: Montags, dienstags und freitags von 8 bis 13, donnerstags sogar von 8 bis 18 Uhr. Den Bescheid schickt ihm ein Herr D., dessen Durchwahl, Telefax und E-Mail bleiben allerdings ungenannt.

Schließlich liest Herr W., dass er ab dem 1. Januar kein individuelles Wesen mehr sein würde. Das Amt spricht ihn an als "Vertreter einer Bedarfsgemeinschaft" an und verwandelt seine alte Kunden-Nummer in eine "Nummer der Bedarfsgemeinschaft". Er ist also auch kein Kunde. Von seiner alten Nummer überlebten nur die ersten drei Ziffern. Sie werden ihn stets daran erinnern, dass er früher einmal Person und Kunde war. Wohngeld bekommt er nun auch nicht mehr, nur "angemessene Kosten der Unterkunft und Heizung" werden übernommen. Im Wörterbuch steht, dass Unterkunft etwas anderes meint als Wohnung, nämlich einen "Raum oder Ähnliches, wo jemand als Gast oder Ähnliches vorübergehend wohnt." Unterkunft sei demnach in seiner Bedeutung verwandt mit "Obdach", "Bleibe" und - Herr W. bekommt Schweißausbrüche - mit "Behelfsunterkunft" und "Notunterkunft". Wenn irgendetwas sein Ein und Alles ist, dann seine bescheidene kleine Wohnung. Warum Unterkunft? Was hat das Amt mit ihm vor?

(Fortsetzung folgt: Herr W. besucht einen Volkshochschulkurs, rechnet danach genau alles durch und überlegt, wie er sich selber helfen könnte.)


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