Keine Angst vor den Gespenstern

Im Gespräch Der Medienwissenschaftler Samuel Weber über Virtualisierung, den "Krieg gegen den Terror" und den Begriff des Eigentums

FREITAG: Der Amerikaner Jason Ainsworth, den Sie in Ihren neueren Texten erwähnen, verdient seinen Lebensunterhalt damit, dass er in den künstlichen Welten von Online-Computerspielen virtuelle Gegenstände - Waffen oder Immobilien wie Burgen - billig aufkauft und sie an ehrgeizige Spieler teuer weiterverkauft. Worauf weist ein solches Phänomen hin? Auf eine zunehmende Entwirklichung der Welt?
SAMUEL WEBER: Ich glaube, man muss zunächst den Begriff der Entwirklichung präzisieren. Normalerweise setzt man voraus, dass die Wirklichkeit der Welt in so etwas wie einer "materiellen Existenz" liegt, oder in dem, was sich selbständig wahrnehmen lässt. Ich glaube aber, dass das nicht ausreicht, um die Wirklichkeit der Welt zu bestimmen. Natürlich stellen die Onlinespiele und ihre virtuellen Gegenstände einerseits den materiellen Wirklichkeitsbegriff in Frage, aber andererseits bestätigen sie ihn gerade, weil sie letzten Endes Gewinn produzieren wollen. Mich interessiert weniger der Fall Ainsworths, sondern vor allem seine Darstellung in einem Zeitungsartikel The Game is virtual. The Profit is real. Entscheidend ist, wie solche Spiele den Lesern einer großen amerikanischen Zeitung dargestellt werden. Es wird ihnen nahe gelegt, dass diese Spiele, die die Wirklichkeit der Welt in Frage zu stellen scheinen, letzten Endes gar nicht bedrohlich sind, dass sie nichts sind als ein Business. Dadurch wird die Vorstellung eines Subjekts als Eigentümer bestätigt. Das ist die Strategie der Publizistik bei dieser Geschichte. Also gewissermaßen mit der Digitalisierung der Ökonomie zu kokettieren, um dann zu sagen: Na, ihr braucht euch keine Sorgen zu machen; im zweiten Leben der Spiele, im "Second Life", da geht es genauso zu wie im ersten Leben.

Bei genauerem Hinsehen stellt sich heraus, dass auch die angebliche Realität selbst schon durch und durch virtuell ist. Was bedeutet nun das Brüchigwerden der Grenze von real und virtuell für den Terror, die neuen Kriege und ihre mediale Aufbereitung?
Ich glaube nicht, dass Terror in sich ein sinnvoller Terminus ist. Einerseits trägt die Bestimmung des Feindes durch den Begriff "Terror" dessen Virtualisierung Rechung. Der Feind ist nicht mehr mit einem Staat identifiziert, also mit etwas Statischem, sondern im Gegenteil mit etwas Labilem, Mobilem, Unsichtbarem, Dunklem, in diesem Sinn Virtuellem. Das gibt aber dem Krieg einen ganz neuen Sinn. Kriege zwischen Staaten waren ja von vornherein zeitlich wie räumlich beschränkt, während der Krieg gegen den Terror in eine ganz andere Richtung geht. Terror ist per definitionem nie ganz aktualisierbar. Daher bietet er sich an, als Ausdruck des ebenso virtuellen wie allgegenwärtigen Bösen identifiziert zu werden, etwa in der "Achse des Bösen". Natürlich ist ein Krieg gegen den Terror nie entscheidbar, weil der Terror - wie das Böse, gerade im biblischen Kontext - mit dem Menschen selbst zusammenhängt. Er ist nie zu entscheiden, es sei denn mit dem Ende der Zeit, der Apokalypse. Und was mir und, wie ich glaube, vielen Menschen sehr zu schaffen macht, ist, dass eine bestimmte Form der Politik entwickelt wird, die die realen Bedingungen einer Apokalypse doch näher bringt. Die amerikanische Regierung treibt z. B. die Entwicklung von strategischen kleinen Atomwaffen voran, Waffen, die wirklich einsetzbar sind und die deshalb Gegenreaktionen bei Staaten wie Nordkorea und Iran durchaus provozieren und rechtfertigen können, sofern diese Staaten sich nur durch eigene Atomwaffen verteidigen zu können glauben.

Das heißt, man tut so, als sei Terror klar zu identifizieren. Und gleichzeitig macht man sich zu Nutze, dass er nie restlos zu identifizieren ist, um überall und jederzeit zuschlagen zu können.
"Terror" wird zum Feind gestempelt, ohne dass weiter gefragt wird, woher er kommt und wie er sich zu sonstigen Formen der Gewalt verhält. Solch eine vereinfachte Sichtweise war in New York vom September 2001 leichter durchzusetzen als jetzt in Paris, wo man aber trotzdem versucht, "Terror" mit Deportationen gleichsam von sich fernzuhalten. Im Fall des 11. September konnte man die Agierenden als Fremde bezeichnen, als Nichtamerikaner, und damit sowohl Virtualisierung wie auch Aktualisierung bestätigen: Die Täter sind Ausländer, sie waren nicht bei uns, sie sind nur bei uns eingedrungen, illegal, aber - und vor allem - lassen sie sich durchaus identifizieren. Man kannte bald ihre Namen, Gesichter, Geschichten. Damit meinte man, keine weiteren Überlegungen anstellen zu müssen. Aber eine derartige Einstellung ist in Paris heute nicht so einfach aufrecht zu halten, weil die Unruhen in den französischen Vororten eben weitgehend von Leuten ausgehen, die Franzosen, französische Staatsbürger sind. Übrigens war das in den Londoner Anschlägen auch so: alle Agierenden waren in Großbritannien geboren oder aufgewachsen; ein großer Schock für die Briten. Für die Franzosen ist es weniger ein Schock, sofern sie seit langem gewusst haben, dass die Kinder von Immigranten aus Nordafrika und Afrika weitgehend als Fremdlinge in ihrem Staat leben und ökonomisch und sozial benachteiligt und ausgeschlossen werden, auch wenn sie juristisch gleiche Rechte haben sollen. Damit besteht heute in Frankreich eine ganz andere Situation als 2001 in den USA, die aber ähnliche Reaktionen hervorruft wie damals dort. Obwohl die übergroße Mehrheit der Beteiligten an den Unruhen Franzosen sind, werden sie als Fremde betrachtet. Politisch und strategisch versucht man , die Volkswut und Angst von der Frage abzulenken, dass es Franzosen sind, die revoltieren, und damit ein Produkt der französischen Gesellschaft.

Man könnte die Unruhen ja als Versuch beschreiben, eine strukturelle, alltägliche, aber unsichtbare Gewalt medial sichtbar zu machen ...
Ja, aber es ist ein sehr verhängnisvolles, zerstörerisches Spiel mit Sichtbarem und Unsichtbarem. Ich habe zwar sehr wenig direkten Kontakt zu Leuten in den Vororten, aber nach allem, was man urteilen kann, sind die Ausschreitungen vor allem Folgen von Verzweiflung und Wut, nicht zuletzt darüber, dass die soziale Rolle der Betroffenen bisher vor allem darin bestanden hat, gesellschaftlich unsichtbar zu sein und zu bleiben. In den USA dagegen ist eine Elite aus verschiedenen Minderheiten gezüchtet worden, die in den Medien durchaus sichtbar ist. Durch ihre Sichtbarkeit entsteht dann der Eindruck, dass diese Gruppen ihre materiellen und sozialen Probleme verbessert oder überwunden haben. Aber dieser Eindruck täuscht. Ich glaube, dass die soziale und ökonomische Situation etwa der Afro-Amerikaner in den Staaten heute insgesamt wahrscheinlich schlechter ist als zu Zeiten Martin Luther Kings. Doch dadurch, dass es einen Colin Powell gibt, eine Condoleezza Rice, dass farbige Nachrichtensprecher oder Sportfiguren sehr sichtbar sind, gewinnt man den Eindruck, dass es dieser Bevölkerungsgruppe besser geht. Eine ähnliche medienbedingte "Lösung" wird von Innenminister Sarkozy jetzt auch in Frankreich angepeilt. Es ist sehr wichtig festzuhalten, dass Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit sich nicht notwendig ausschließen müssen. Etwas kann unsichtbar werden, indem man es sichtbar macht. Die Sichtbarkeit deckt zu, was sie eigentlich bedeutet. Darauf hat Freud mit dem Begriff der "Deckerinnerung" hingewiesen.

Um auf den Anfang des Gespräches zurückzukommen: Sie sagen, dass Virtuelles und Reales sich nicht ausschließen, nicht unbedingt einen Gegensatz bilden. Das erinnert auch an Derridas Versuche, Marx neu zu lesen. Marx´ Trennung der Ware in den (realen) Gebrauchswert und einen ihn virtualisierenden Tauschwert, lässt sich Derrida zufolge nicht aufrecht erhalten.
Was ihn in seinen letzten Büchern, Marx´ Gespenster oder Schurken, stark beschäftigt hat, ist die Frage, was es bedeutet, ein Selbst zu sein, eine Selbstheit. Wer von Waren spricht, spricht ja nicht nur von Objekten, sondern immer auch von einer gewissen Auffassung der Subjektivität, der Identität, zum Beispiel einem Eigentümer, Konsumenten, Verkäufer, Käufer. Ich glaube, Derridas Verdienst in seinen letzten Schriften besteht unter anderem darin, darauf hinzuweisen, dass diese verschiedenen Schattierungen den Begriff des souveränen Selbst als Eigentümer voraussetzen. Denn ohne ein derartiges "Selbst" lässt sich ein Produktionssystem nicht denken, das auf Eigentum, Eigenwert und Gewinn zielt, also auf alles, was sich scheinbar aneignen lässt. Und wenn Derrida argumentiert, dass die Aktualität des Gebrauchswerts in der Warenproduktion durch Virtualität vermittelt ist, dann ist das gewissermaßen ein Korrelat zu der Auffassung, dass die Aktualität des Selbst als Eigentümer ebenfalls durch eine gewisse Virtualität vermittelt ist. Und was Subjekte sich erhoffen, nämlich die Aneignung von Eigentum und Gewinn - und in diesem Sinn die Aktualisierung des Virtuellen - wird dann gefährlich, wenn es ihre Ängste über ihre eigene Virtualisierung, ihr künftiges Gespenstischsein, verdrängen oder überspielen soll. Denn das kann sehr leicht zu einen Teufelskreis von Angst und Zerstörung führen. Ich glaube, es ist leider genau das, was wir in der großen Politik jetzt erleben.

Nun war die klare Unterscheidung in Gebrauchswert und Tauschwert mit der sich anschließenden Entfremdungstheorie auch ein Kern der Kapitalismuskritik. Sehen Sie Möglichkeiten einer anderen Kritik der politischen Ökonomie?
Für Derrida besteht die Aufgabe und die Herausforderung darin, die "Gespenster" nicht so sehr auszutreiben, als mit ihnen anders umzugehen. Ich glaube aber nicht, dass man von seiner Analyse aus stracks zu einer unmittelbaren Politik kommen kann. Es gibt da zu viele Vermittlungsprobleme, die zuerst angegangen werden müssen, zum Beispiel das Problem der Arbeit, oder genauer, der Arbeitslosigkeit. Es ist zwar sehr schön zu sagen, Gebrauchswert werde durch Tauschwert vermittelt, aber was besagt das für die Tatsache, dass heute in den wirtschaftlich "entwickelten" Ländern, immer mehr Menschen, junge wie alte, zunehmend aus dem sozialen Leben ausgeschlossen werden, weil sie im Arbeitsprozess keinen Platz mehr finden können? Was bedeutet diese zunehmende Arbeitslosigkeit für das "Leben" der Gesellschaft, in der sie sich ausweitet? Was bedeutet sie für ihre Beziehung zu ihrer Vergangenheit und ihrer Zukunft? Können solche Fragen nur im Hinblick auf "Gewinne" und "Verluste" beantwortet werden? Marx schreibt einmal in den Grundrissen von der Perspektive einer progressiven Reduzierung der Arbeitswoche. Die Reduktion der Arbeitszeit wurde in Frankreich durch die Einführung einer 35-Stunden-Arbeitswoche versucht. Doch unter den Bedingungen der globalisierten Konkurrenz, scheint es fragwürdig, ob sie aufrecht erhalten werden kann. Der Wunsch danach bleibt aber, auch wenn ihre Aktualisierung wohl auf sich warten lassen wird.

Das Gespräch führte Sebastian Kirsch


Samuel Weber ist Avalon Professor of Humanities an der Northwestern University, Chicago und leitet deren "Paris Program in Critical Theory". Bekannt wurde er vor allem mit Untersuchungen zu Walter Benjamin, Jacques Derrida, Siegmund Freud und Jacques Lacan. Seine Monographie Rückkehr zu Freud. Jacques Lacans Ent-Stellung der Psychoanalyse trug wesentlich dazu bei, das Denken Lacans in Deutschland bekannt zu machen. Daneben arbeitete Weber auch als Dramaturg. Webers neueste Veröffentlichungen sind: Theatricality as Medium and Targets of Opportunity: On the Militarization of Thinking (2005). Zurzeit arbeitet er an einem Buch über Walter Benjamin.


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