Keine Fahrkarte zum Gymnasium

Hartz IV Die Debatte über Sozialcard und Regelsätze verdeckt, dass auch die Bundesländer den Kindern finanzielle Hürden auf den Schulweg stellen

Den Teufelskreis, dass Armut über einen Mangel an Bildung an die nächste Generation weitervererbt wird, gilt es zu durchbrechen“, erklärt Ursula von der Leyen (CDU) in einem Interview auf der Website ihres Bundesarbeitsministeriums. Seit dem Hartz-IV-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Februar dieses Jahres konzentriert sich die Ministerin auf den Teilaspekt Bildung. Ob die Regelsätze erhöht werden, deren Berechnung Karlsruhe für verfassungswidrig erklärt hat, lässt sie vielsagend offen. Der Sparkurs der Regierung spricht aktuell nicht dafür.

Doch müssen bedürftige Kinder nicht nur über das Haushaltsloch des Bundes balancieren, um ihre Bildungschancen auszuschöpfen. Das zeigte eine Verhandlung am Bundessozialgericht in Kassel in der vergangenen Woche.

Ein von Hartz IV lebender Gymnasiast aus dem Raum Ludwigshafen hatte versucht, Geld für seine Schulbücher zu erstreiten. Die Bildungspolitik im SPD-regierten Rheinland-Pfalz verlangte ihm ab, die Lehrwerke selbst zu kaufen. Ein Schulbuch-Leihsystem für ärmere Kinder wird dort gerade erst aufgebaut.

Im Schuljahr 2005/2006 sollte der Junge Lehrwerke für knapp 200 Euro kaufen. Ein Buchgutschein für bedürftige Familien deckte nur 59 Euro davon ab. Das restliche Geld beantragte der junge Mann bei der ARGE und wurde abgewiesen. Dagegen klagte er, scheiterte nun aber vor dem höchsten Sozialgericht. Es sei „eines der Urteile, die man nicht gerne spricht“, erklärte der Vorsitzende Richter Wolfgang Spellbrink dazu.

Die Kasseler Richter sahen keine Anspruchsgrundlage für Schulbücher im Hartz-IV-System. Sie sahen auch keine Chance, die Situation des Gymnasiasten als Notlage zu werten, sodass der Landkreis als Sozialhilfeträger einspringen müsste. Schulbücher seien ein für Kinder und Jugendliche typischer Bedarf, betonten sie. Der sei zwar verfassungswidrig nicht gedeckt gewesen. Der Kläger müsse das aber hinnehmen, weil Karlsruhe nicht verlangt habe, dies rückwirkend zu reparieren. Die Situation sei „merkwürdig“. Spellbrink betonte auch: „Der Sozialhilfeträger ist wirklich nicht der, der zuständig sein sollte für Schulbücher.“


Doch stellen Schulbücher für arme Schüler nicht die einzige Hürde zum Abitur dar. Im Raum Kassel sammelt derzeit eine Regionalzeitung Spenden, um Schülerinnen und Schülern, die von Hartz IV leben, die Fahrt zum Gymnasium zu ermöglichen.

Auch hier entscheidet Landespolitik auf finanziellem Weg mit über Bildungswege: Laut hessischem Schulgesetz muss die Schülerbeförderung nur bis zum Abschluss der Mittelstufe von den Landkreisen bezahlt werden. Für höhere Klassen wären die Tickets eine freiwillige Leistung, die sich einige hoch verschuldete Kreise selbst dann nicht leisten dürften, wenn sie es wollten.

Eine junge Frau, die von der Spendenaktion profitiert, ist Ina S. (Name geändert). In ihrer Kernfamilie wäre sie die erste mit Abitur. Sie ist von zuhause ausgezogen, um die Schule überhaupt schaffen zu können. Im Haushalt ihrer Mutter musste sie permanent mehrere kleine Geschwister betreuen. „Ich hatte keine Freizeit mehr und keine Zeit für die Schule“, berichtet die 18-Jährige. Jetzt lebt Ina allein, bekommt Hartz IV und Kindergeld. Neben der Miete hat sie rund 350 Euro zur Verfügung. Die Fahrkarte zum Gymnasium in Kassel kostet monatlich 43 Euro. Ein halbes Jahr lang wird das Ticket nun durch die Spendenaktion finanziert. Sie habe nun erstmals Spielraum, um etwas Geld zurückzulegen, sagt Ina.

Ausgaben für Lektüren, Hefte, Mappen summieren sich auf weitere 150 Euro im Jahr, sagt sie. 125 Euro muss sie außerdem aufbringen, weil sie parallel zum Abi eine Ausbildung als biotechnische Assistentin absolviert. „Etwas mehr finanzielle Unterstützung“ für ihren Bildungsweg, „das wäre schön“, sagt Ina.

Katja Schmidt ist freie Journalistin in Kassel und schrieb im Freitag zuletzt über das Wohngeld für Arbeitslose

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