Keine Keilerei, nirgends

Entdeckung Weltabtasten als Erzählprinzip: Eduardo Halfon, ein US-Amerikaner, der aus Guatemala stammt, legt einen furiosen Boxerroman vor
Ausgabe 33/2014
Keine Keilerei, nirgends

Foto: Patrick Baz/ AFP/ Getty Images

Literatur und Faustkampf passen zusammen. Der passionierte Boxer Ernest Hemingway dankte seinem Freund Ezra Pound für Korrekturarbeiten mit Trainingsstunden im Ring. In Bert Brechts Arbeitszimmer hing ein Punchingball. Und Norman Mailer schrieb nicht nur ein Buch über den legendären „Rumble in the Jungle“ zwischen Ali und Foreman, sondern prügelte mitunter auch auf seinen Kollegen Gore Vidal ein. Es gibt also nicht nur Dichtung und Wahrheit; es gibt auch Dichtung und Infight.

In die letztgenannte Linie scheint sich der erste ins Deutsche übersetzte Titel von Eduardo Halfon einzureihen: Der polnische Boxer, ein, so die Gattungsbezeichnung, Roman in zehn Runden. Halfon, ein teils in den USA aufgewachsener Guatemalteke mit polnisch-libanesischen Vorfahren, siedelt die erste Episode aber nicht im Ring an, sondern im „Labyrinth“: Ein Universitätsdozent, der mit dem Autor gewiss nicht nur den Namen teilt, irrt gedankenverloren durch die Reihen eines Hörsaals, in dem er einem „Haufen größtenteils analphabetischer Studenten Literatur beibringen“ soll.

Aufgeschreckt wird er von einem Hörer, der sich von der allgemeinen Teilnahmslosigkeit abhebt. Juan Kalel heißt der junge Mann, kommt aus dem Hochland und dichtet in der Maya-Sprache Cakchiquel. Kalel wird – um im Bild zu bleiben – zum Sparringspartner des Erzählers in der ersten Runde, dann verschwindet er wieder. Ihm folgen weitere Mit- und Gegenspieler, die sich in zwei Aspekten ähneln: Sie alle sind Abweichler, Einsame, Herumtreiber.

Und sie provozieren das Erzählen. Wie der serbische Pianist, der eigentlich mit einer Zigeunerkarawane durch die Welt ziehen möchte und plötzlich verschwindet. Die Faszination, die von dieser Figur ausgeht, ist derart groß, dass der Erzähler den Pianisten schließlich in dessen Heimatstadt Belgrad aufzuspüren versucht. Erfolglos. Und doch erfolgreich: Die Suche nach dem Pianistengespenst ist nicht nur Abenteuer, sondern auch Schreibanlass, Selbstfindung, nein, eher Weltfindung, oder, noch passender: Weltabtasten.

Auschwitz überlebt

Dieses Weltabtasten ist das Erzählprinzip des Buchs. Halfon tastet sich mit seiner Sprache durch die Welt, versucht alles, was er sieht, mit Allegorien zu fassen, in Metaphern zu übersetzen, mit Analogien zu Kunst und Film zu beschreiben. Damit stößt er wohlweislich an Grenzen. Denn oft genug weiß er bei seinen Vergleichen selbst nicht, „was ich damit sagen will“. So führt Halfons Vergleichslust notwendig zu einem Leitmotiv, das sich durch alle zehn Runden zieht: dem Schweigen, das den Raum zwischen den Figuren füllt. Ein einverständliches Schweigen. Es ist das Schweigen eines glücklichen Sisyphos, der immer wieder versucht, den Gipfel zu erreichen, auch wenn er um sein Scheitern weiß.

Die titelgebende Runde ist übrigens die fünfte. In ihr spürt der Erzähler der Lebensgeschichte seines Großvaters nach, der Auschwitz überlebt hat. Dessen Geschichte geht wie folgt: Im KZ angekommen, gibt ihm ein Mithäftling, ein polnischer Boxer, die Worte mit, die er beim Verhör benutzen soll, um zu überleben. Und das gelingt. Was das für Worte sind, bleibt ungewiss, doch gewiss ist: Es gibt eine Rettung durch Worte, in diesem Fall durch die Worte eines anderen. Genauso, möchte man sagen, kann mitunter Literatur funktionieren.

Doch zeigt die Geschichte des Großvaters auch die Grenzen der Literatur. Nachdem Halfon aus der Lebensgeschichte eine literarische Geschichte, aus der historischen „Wahrheit“ also Dichtung gemacht hat, liest er ein Zeitungsinterview, das sein Großvater gegeben hat. Der erklärt dort: Er habe Auschwitz überlebt, weil er so ein geschickter Schreiner gewesen sei. Von einem polnischen Boxer und der Rettung durch Worte keine Rede. Was bleibt, ist Sisyphos-Poetik: Beim Dichten weiß man, dass es die Wirklichkeit gibt, dass dieses Etwas erreichbar sein muss, man nähert sich, man kämpft darum, man darf es nicht vergessen. „Aber wir vergessen es trotzdem jedes Mal, zweifellos.“ Doch manchmal reicht eben der Versuch. Und dieser Versuch ist ein äußerst gelungener. Auch wenn man auf Keilereien vergeblich wartet.

Der polnische Boxer. Roman in zehn Runden Eduardo Halfon, Peter Kultzen (Übers.) Hanser 2014, 224 S., 18,90 €

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