Wo die Seele wohnt
Vor etlichen Jahren kam ich auf einer Reise durch den Westen der Ukraine nach Brody, wo der bekannte Dichter Joseph Roth aufgewachsen war. Damals lag Brody nur wenige Kilometer von der Grenze der Donaumonarchie zu Russland entfernt, und auch deshalb hat Roth seine Geburtsstadt später in seinen Werken, die dem Untergang des von ihm geliebten Habsburger-Reichs gelten, immer wieder thematisiert. In Brody ging ich zur Mittagsstunde ins Heimatmuseum, wo sich – muss man es betonen? – kein weiterer Gast befand, und erstand den Nachdruck einer alten Postkarte mit dem Schlagbaum der K.-u.-k.-Grenze. Danach spazierte ich zum Gymnasium, in dem Roth 1913 seine Matura machte, bevor es ihn erst nach Lemberg und dann immer weiter westwärts in die Welt zog. Auch die Schule, die heute nach dem Schriftsteller heißt, beherbergte ein kleines Museum. Es bestand aus einem Schaukasten, der eine vergilbte Reportage aus der NZZ, zwei japanische Übersetzungen sowie mehrere Ausgaben seiner Romane auf Deutsch zeigte. Es schien mir das wahre Museum von Brody zu sein. Später führte uns ein Schüler durch seine Stadt, unter anderem zum jüdischen Friedhof und an dem Hotel vorbei, in dem Carl Joseph von Trotta im Radetzkymarsch einkehrt. Heimat ist dort, wo man sich verlieren möchte, und wo ginge das leichter als am äußersten Rand der Heimat einer Seele, die schon immer auf der Flucht war?
Michael Angele
Nur Unauffälliges
Das Museum meiner Heimat (der Wetterau) besteht im wahrsten Grunde aus uns allen, die wir von dort kommen. Aber es gibt auch eine tatsächliche Institution, die sich Wetterau-Museum nennt. Es findet sich dort unter anderem, wohl als berühmtestes Stück, das Luther-Schwert. Es ist aber nicht so, dass Luther dieses Schwert jemals getragen hätte. Ein Reisebegleiter Luthers soll es getragen haben. Ob wenigstens das aber stimmt – ist umstritten. Ich mag unser Museum, denn es ist so unauffällig. Früher, als es noch das Stadtarchiv beherbergte, war ich oft vor Ort und las still und bescheiden in den Wetterauer Geschichtsblättern.
Dann aber kam die Moderne! An der Grenzscheide zwischen Nord- und Südtirol wurde der Ötzi entdeckt und machte Bozen berühmt (dort kam er ins Museum). In meiner Heimat wurde, ähnlicher Vorgang, der Bekannteste von uns allen ausgegraben, der Keltenfürst auf dem Glauberg. Eine Skulptur aus Stein. Der Fürst trägt einen Helm, mit dem er aussieht, als habe er Micky-Maus-Ohren. Jetzt hat die Wetterau eine Ikone. Auf dem Glauberg entstand daraufhin die fortschrittlichste Museumsarchitektur der Wetterau aller Zeiten. Kinderscharen werden dorthin gepilgert. Alles didaktisch aufbereitet.
Nein, das hat das Wetterau-Museum in Friedberg in der Wetterau (es war lange vor dem Fürsten mit den Maus-Ohren da) nicht zu bieten. Nichts Ikonisierungsfähiges. Je länger ich darüber nachdenke, desto schöner finde ich, dass mein Heimatmuseum genau das nicht bieten kann: Ikonisierungsfähiges. Keine Mona Lisa, keine Maus-Ohren. Nur Unauffälliges. Wie wir selbst.
Andreas Maier, Schriftsteller
Rettungsanstalt
Es ist doppelt bemerkenswert, dass der Bund nun Heimatmuseen fördert. Erstens, weil diese Museen lange darum kämpfen mussten, überregional wahr- und ernst genommen zu werden. Zweitens sind Heimatmuseen Inbegriff kommunaler und nicht nationaler Zuständigkeit. Es sind die Städte, Dörfer und Gemeinden, die sie im Verbund mit Vereinen und Ehrenamtlichen betreiben, um lokale Identität zu stiften und über Geschichte und Leben am Ort aufzuklären. Diese kleinräumliche Ausrichtung stand freilich immer schon im Dienst nationaler Ziele. Sie war zentral für den Erfolg der Heimatmuseen nach der deutschen Nationsbildung 1871. Zwischen 1890 und 1918 entstanden knapp 400 Heimatmuseen und Heimatsammlungen im Deutschen Reich. Der neue Staat brauchte Institutionen, die seine Existenz als föderales Gebilde aus vielen vormals eigenständigen Ländern legitimierten. Statt von Eliten und Metropolen erzählten sie vom einfachen Mann, vom Alltagsleben auf dem Lande. So machten sie die abstrakte Nationalgeschichte des jungen Deutschen Reichs im eigenen Umfeld greifbar und konnten sie mit lokalen Traditionen verweben. „Im Bilde der Gemeinde ahnt und begreift das Volk erst den Staat“, hatte der Volkskundler Wilhelm Heinrich Riehl 1883 pathetisch geschrieben. Neben Identitätsstiftung fungierten Heimatmuseen als Orte, an denen die Relikte der guten alten Welt der heimischen Bauern und Handwerker „gerettet“ werden konnten, die um 1900 durch die Industrialisierung für immer verloren zu gehen drohten. Dieser Rettungsgedanke motivierte viele ländliche Gemeinden auch in den 1960ern, neue Heimat- und Freilichtmuseen zu gründen. Statt Pferdefuhrwerken bestellten Traktoren das Feld, Mähdrescher ersetzten Dreschflegel. Die Corona-Krise löst nun den nächsten Sammlungsschub aus und füllt die Museen mit Masken und Klopapierrollen, die neue Geschichten über unsere Heimat erzählen.
Thomas Thiemeyer, Prof. für Empirische Kulturwissenschaft in Tübingen
Nach Originalrezept
Das Museumsdorf Cloppenburg gehört zu den ältesten Freilichtmuseen Deutschlands, als Schülerin habe ich es gehasst. Jeder, der im Umkreis von 60 Kilometern zur Schule ging, war während seiner Schulzeit circa hundertmal vor Ort, um etwas über die als trist und öde empfundene norddeutsche Heimat und Geschichte zu lernen. Einziger Lichtblick der Pflichtbesuche war der Geschmackstest beim Schwarzbrot aus dem fast 300 Jahre alten Backhaus (nach Originalrezept) mit ausländischen Austauschschülern: Die knüppelharte, bittersaure Köstlichkeit bezwingt noch jeden Weißbrot-Gaumen. Und die Bettnischen machten Eindruck, Alkoven und auf Plattdeutsch auch „Butze“ genannt, die, versteckt in Küchenschränken von Bauernhäusern, nur 1,60 Meter lang waren! Die Dienstboten schliefen dort im Sitzen. Es gab wenig Platz. Nach dem Social-Distancing-Knigge wäre ein Besuch aktuell aber möglich. Auf dem 15 Hektar großen Gelände kann man sich bequem aus dem Weg gehen.
Diana Gevers
Geisterstätte
Heimatmuseen besuchen wir in der Regel dort, wo wir nicht zu Hause sind. Denn verrückterweise glauben wir ja, unsere Heimat zu „kennen“. In der Fremde (im Urlaub) stolpern wir also über knarrende Dielen und durch staubige Räume, gelegentlich klickt es dabei romantisch. Manchmal geht einem die Welt auf. Beides passiert im Museum of Jurassic Technology, das in einer kleinen Straße von Los Angeles versteckt liegt. 1989 gegründet, lässt es sich am besten als ein Museum der Erde beschreiben – unserer Heimat. In Anlehnung an das prämuseale Konzept der Wunderkammer präsentiert es Objekte aus den Randgebieten von Kunst und Wissenschaft, oft fiktive Naturalien und seltsame Kuriositäten. Wandelt man durch die schiefen, dunklen Gänge und Räume, sieht man etwa Mottensammlungen aus Frankreichs 19. Jahrhundert, eine Geschichte amerikanischer Trailer oder frühe surrealistische Erinnerungsmodelle. Als hätten sich alle Filme von David Lynch in ein einziges Museum verwandelt. Die Menschen, die hier arbeiten, sehen zart und durchsichtig aus, wie alte, müde Geister. Es gibt kaum Besucher, nur wenige Verschwörungstheoretiker und liebe Hexen. Das Museum erzählt von einer Zeit, in der Fake noch nichts komplett Böses war, sondern auch ein Versprechen interessanter Alternativen. Sie müssen also entschuldigen, wenn das hier unverständlich bleibt. Allein die Erinnerung an das mythische Museum setzt eine sofortige Verschiebung im Gehirn in Gang. Nirgendwo ist der Spirit (die Heimat?) der Westküste, ihrer Freaks und Rabbit Holes genauer eingefangen.
Timo Feldhaus
Alles nur Kulisse
„Mama, warum steht ein Auto in diesem Haus?“, fragt mein Sohn, sechs Jahre alt. Er redet vom Trabi, er weiß, dass ich als Kind damit gefahren bin. Ich sage meinem Sohn, dass der Trabi für die Leute da steht, die woanders gelebt haben und wissen wollen, wie das so war in dem anderen Land. So wie meine französischen oder italienischen Freunde, wenn sie zu Besuch kommen und fragen: Wie war das früher bei dir? Sie sind neugierig, sie wollen in das Museum, in die Ausstellung Alltag in der DDR in der Kulturbrauerei in Berlin. Ich schleppe sie also da rein, erkläre: Honecker-Bild, Trabi, Spreewaldgurke, Schrankwände, Cordhose der 70er. Eigentlich will ich die ganze Zeit rufen: Aber so war es nicht, hat nichts mit mir zu tun! Ist nur Kulisse. Die Inszenierung einer Normalität, die man Heimat nannte. Nach 1989 entstanden viele „DDR-Museen“, sie sollten die Lebenswelt einer untergehenden Gesellschaft konservieren. Die Ausstellung in Berlin-Prenzlauer Berg ist ein Ableger des Hauses der Geschichte in Bonn, der Westen deutet das Leben im Osten, altbekannt. Man erinnert sich aber nicht an Dinge oder Ereignisse. Sondern daran, was man dabei empfunden hat. Die erste Zigarette mit 14, der tschechische Freund, ein Lied. Das blau-rote Kaufhallen-Logo evoziert nichts im Museum. Heimat ist nichts Festes, nichts Museales. Keine Schrankwand, keine Waschmaschine.
Maxi Leinkauf
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