Keine Regierung jenseits der Grünen Zone

Im Gespräch Der Europa-Abgeordnete André Brie über eine schwache irakische Armee, starke Milizen und ein Kabinett der nationalen Versöhnung

FREITAG: George Bush setzt auf eine um 20.000 Soldaten gesteigerte Präsenz im Irak. Sie haben das Land gerade bereist - was lässt sich mit zusätzlichen Militärs bewirken? ANDRÉ BRIE: Nichts - allenfalls werden die alten Fehler mit den gleichen falschen Mitteln wiederholt.

Gäbe es denn eine militärische Strategie, die wirklich Aussicht auf Erfolg hätte? Nein. Politisch wäre - unter sehr schwierigen Umständen - einiges möglich, dazu bedürfte es sicherlich auch militärischer Mittel. Denn zunächst einmal wären die fundamentalistischen, aber auch alle anderen Milizen zu entwaffnen oder zumindest sauber in die irakischen Streitkräfte und die Polizei zu integrieren. Vorrang hätten aber eine handlungsfähige Regierung der nationalen Versöhnung und ein Ende jedweder Einmischung von außen - hauptsächlich der USA und des Iran.

Sie sprechen die Milizen an - George Bush fordert, die irakische Regierung solle stärker gegen diese Verbände vorgehen. Halten Sie das für erfolgversprechend? Nein, das ist abenteuerlich, die Milizen sind die eigentlichen Herrscher in weiten Teilen des Landes. Und ohne die Amerikaner wären sie niemals so mächtig geworden.

Inwiefern? Weil nach der Intervention vom Frühjahr 2003 auf Betreiben der Besatzer zwei Millionen Iraker durch die so genannte "Ent-Baathifizierung" von Armee und öffentlichen Diensten - bis hin zu den Hospitälern - ihre Arbeit verloren und ein willkommenes Rekrutierungspotenzial für die Milizen waren. Außerdem wandte sich die US-Zivilverwaltung den irakischen Emigranten im Iran zu, die unter einem stark islamistischen Einfluss standen, also genau der ideologischen Ausrichtung, die heute für viele Milizen gilt. Mit anderen Worten, es waren die USA, die viele Milizen lizenziert haben, um sie als Ordnungsmacht einsetzen zu können.

Premier al-Maliki hat sich im Unterschied zu Präsident Talabani vehement für die Vollstreckung der Todesstrafe an Saddam Hussein eingesetzt. Weshalb eigentlich? Um mehr Legitimation bei den Schiiten zu haben? Es ist ein Irrtum zu glauben, dem Desaster im Irak liege als entscheidender Konflikt die Feindschaft zwischen Sunniten und Schiiten zugrunde. Unter den 52 von den USA meist gesuchten Funktionären des Saddam-Regimes waren 36 Schiiten, eine deutliche Mehrheit. Allerdings wird versucht, Spannungen zwischen Schiiten und Sunniten zu schüren. Al-Maliki wollte mit den Exekutionen ein Signal an die fundamentalistischen Milizen senden, an die Sadr-Milizen, auch an die Verbände von Ayatollah al-Hakim. Der wiederum wurde gerade erst von Bush in Washington empfangen - da schließt sich der Kreis.

Al-Maliki kann Hinrichtungen verfügen, ansonsten scheint seine Autorität eher marginal. Warum halten die Amerikaner an ihm fest? Weil ihnen das Personal und eine Strategie fehlen. Hohe amerikanische Offiziere haben mir gesagt, sie schätzen die Lage völlig anders ein als die Regierung Bush, aber in Washington nehme man das nicht zur Kenntnis. Der Irak hat im Augenblick keine Regierung jenseits der Grünen Zone von Bagdad. Die Regierung ist praktisch nicht präsent. Wenn man das Parlament treffen will, fährt man lieber nach Amman, nach Doha oder nach Dubai, dort findet man die irakischen Abgeordneten.

Bush will trotzdem den irakischen Sicherheitskräften mehr Verantwortung für die innere Stabilität übertragen. In welchem Zustand befinden sich nach Ihrem Eindruck Armee und Polizei? In einem denkbar schwachen. Ich habe die Stadt Chalis in der Provinz Diyala besucht, wo 70 Prozent der Polizisten inzwischen zu den Milizen oder zu al Qaida übergelaufen sind. Bei diesen Formationen erhalten sie mehr Geld, auch wird ihnen mehr Sicherheit garantiert. Das mag ein extremes Beispiel sein, aber es charakterisiert den Zustand, in dem sich die Sicherheitskräfte wirklich befinden. Sie sind unterwandert von fundamentalistischen Kräften, zum Teil auch von Aufständischen und völlig korrupt.

Sie waren auch in Irakisch-Kurdistan. Ist der Eindruck richtig, dass sich die kurdischen Autoritäten derzeit betont zurückhalten? Ja. Dort herrscht eine andere Situation, es gibt ein beträchtliches Maß an Sicherheit sowie eine funktionierende Ökonomie, auch wenn die Ruhe trügerisch bleibt. Die sehr starken Autonomiebestrebungen und das Verlangen, Kirkuk noch 2007 der kurdischen Einflusssphäre zuzuschlagen, können sich für den Irak - und weit darüber hinaus - als explosiv erweisen. Das scheint mir auch der Grund dafür zu sein, dass kurdische Politiker momentan sehr verhalten agieren.

Würden Kontakte der Amerikaner mit Teheran und mit Damaskus zu einer Entspannung im Irak führen? Immerhin hatte das die Baker-Kommission angeregt. Gespräche mit Syrien wären sinnvoll. Der Iran allerdings will den Irak ideologisch vereinnahmen und die Dominanz zumindest im Süden des Nachbarlandes übernehmen, wie Teheran im Übrigen auch weitergehende Absichten in Syrien, im Libanon und gegenüber der Hamas in Palästina verfolgt. Dennoch wäre eine militärische Konfrontation äußerst gefährlich, würde doch die US-Regierung mit einer möglichen Aggression gegen den Iran die islamische und die arabische Welt massiv gegen den Westen aufbringen. Man muss aber berücksichtigen, das iranische Regime verfolgt in der Region fundamentalistisch begründete Vorherrschaftsbestrebungen. Der Sinn von Gesprächen, nach denen Sie fragen, hinge daher stark davon ab, was ihr Gegenstand wäre.

Sie haben anfangs als Perspektive eine Regierung der nationalen Einheit genannt. Wie könnte die zustande kommen? Im Irak besteht ein sehr breites Bedürfnis nach einer solchen Regierung, etwa bei den Stammesältesten, die eine Plattform dafür sein könnten. Beistand käme auch von weiten Teilen der Zivilgesellschaft, von gemäßigten religiösen Führern der Schiiten wie der Sunniten und von den beiden großen kurdischen Parteien. Meine Gesprächspartner aus allen Lagern haben immer wieder Ex-Premier Iyad Alawi als möglichen Chef einer solchen Regierung genannt, der bekanntlich schon einmal von den USA eingesetzt wurde.


Das Gespräch führte Steffen Vogel

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