Keine Revolution – aber ein Fingerzeig

Gamestop Yanis Varoufakis kommt der jüngste Börsen-Coup irgendwie bekannt vor
Ausgabe 05/2021
Der republikanische Politiker Gavin Wax spricht auf einer „Re-Occupy Wall Street“-Demonstration im Januar 2021
Der republikanische Politiker Gavin Wax spricht auf einer „Re-Occupy Wall Street“-Demonstration im Januar 2021

Foto: ZUMA Wire/Imago

Als ich 2008 davon erfuhr, dass Lehman Brothers pleite war und Tausende Mitarbeiter entlassen wurden, erlaubte ich mir eine Fantasie. Ich stellte mir vor, eine der Entlassenen – aus irgendeinem Grund nannte ich sie Esmeralda – würde zur Dissidentin werden. Esmeralda ärgerte, wie dieselben Chefs, die sie zu einer lukrativen Karriere als Herstellerin finanzieller Massenvernichtungswaffen verführt hatten, sie nun aussortierten. Also gründete sie mit anderen die „Crowdshorters“, um die Zentralbanken davon abzuhalten, Investmentbanken und Hedgefonds zu retten. Dafür würden sie strukturierte Derivate, die die Katastrophe von 2008 über die Welt gebracht hatten, „shorten“, also auf deren Wertverfall wetten.

Die Crowdshorters gingen in meiner Fantasie so vor: Mit all ihrem Expertenwissen identifizierten sie Derivate, die für das Überleben großer Banken und Hedgefonds zentral waren und denen Wertverluste drohten, sollte es zu Zahlungsverzug kommen – etwa bei Wasserrechnungen oder Versicherungsprämien. Sie wandten sich also an diejenigen, die diese Zahlungen leisten mussten, und überzeugten sie, sich damit Zeit zu lassen. Anfallende Verzugszinsen würden die Crowdshorters mit Geld kompensieren, das sie per Crowdfunding von Millionen einfacher Leute, die Banker und Hedgefonds bestraft sehen wollten, eingesammelt hatten.

2008, als der Geist von „Occupy Wall Street“ um sich griff, war ich überzeugt, dass Millionen Menschen Teil solch eines gut inszenierten Massenangriffs auf das Finanzkapital sein wollten. Der Schlüssel zum Erfolg der fiktiven Bewegung war das Prinzip, demnach jeder ein winziges Opfer brachte, welches, multipliziert mit Millionen Mitstreitern, reicht, um den Kapitalismus zu stürzen, oder zumindest, um zu verhindern, dass Regierende wenigen Bankern auf Kosten der Vielen aus der Patsche helfen.

Vor einiger Zeit beschloss ich, meine damalige Fantasie wieder aufzugreifen, in meinem Polit-Science-Fiction-Roman Another Now. Damit sei dieses Kapitel abgeschlossen, dachte ich. Vor ein paar Tagen schrieb mir dann ein Leser aus den USA: „Verfolgen Sie die Gamestop-Saga? Ihre Crowdshorters sind in Aktion getreten!“ Das ist übertrieben, aber Teile meiner Fantasie sind erkennbar.

Es stellte sich heraus, dass über ein paar Tage hinweg 4,4 Millionen Leute eine Reddit-Seite genutzt hatten, um ihre bescheidenen individuellen Käufe von Gamestop-Aktien zu koordinieren. Ziel war es, zwei Wall-Street-Hedgefonds, die eben diese Aktien „geshortet“ hatten, in den Bankrott zu treiben. Der Plan ging auf, zumindest gerieten beide Hedgefonds in arge finanzielle Nöte. An diesem Punkt hört die Ähnlichkeit mit meinen Crowdshorters und Esmeralda auf. Die Reddit-Crowd zielte nicht auf den Kapitalismus im Allgemeinen,und den meisten Beteiligten ging es um Profit. Zugleich aber motivierte viele durchaus die Absicht, es den Hedgefonds mal so richtig zu zeigen.

Unter dem Strich war der Gamestop-Vorfall kein revolutionärer Augenblick. Aber er zeigt, wie neue Formen kollektiven Handelns im 21. Jahrhundert aussehen können. Eines Tages blicken wir vielleicht zurück und erkennen hier eine Entsprechung zur Gewerkschaftsbewegung des 19. Jahrhunderts.

Yanis Varoufakis ist Ökonom, Publizist und Politiker der Bewegung DiEM25. Sein Buch Another Now. Dispatches from an Alternative Present erscheint im Herbst auf Deutsch im Verlag Antje Kunstmann

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Übersetzung: Carola Torti

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