Keine Sure richtet so viel an wie Alkohol

Islam Ein Koranvers ruft zur häuslichen Gewalt auf? Wer so argumentiert, lenkt nur vom strukturellen Problem männlicher Gewalt ab
Ausgabe 05/2019
Die Kultur der Mehrheitsgesellschaft wird vor allem auf dem Oktoberfest verteidigt
Die Kultur der Mehrheitsgesellschaft wird vor allem auf dem Oktoberfest verteidigt

Foto: Ralph Peters/Imago

Zwar haben die meisten Menschen den Koran nicht gelesen, aber eines meinen sie ganz genau zu wissen: Es gebe einen Vers, in dem zum Schlagen von Frauen aufgefordert werde. Was da genau steht und wie er im Verhältnis zu den über 6.000 anderen Versen des Korans steht, wissen die wenigsten. Das wohlige Gefühl der Überlegenheit, wenn man Frauenfeindlichkeit zur Spezialität der Muslime erklären kann, scheint diese Unwissenheit wert zu sein. Als Familienministerin Franziska Giffey eine Statistik des Bundeskriminalamts über Partnerschaftsgewalt vorstellte, betonte sie, dass zwei Drittel der Tatverdächtigen Deutsche seien und die Gewalt von Männern aus allen gesellschaftlichen Schichten und ethnischen Gruppen ausgehe. Prompt war zu lesen, Giffey verschweige die Koranpassage. Nun haben Täter in der Regel eher zu tief ins Glas als in den Koran geschaut, doch Alkohol zu problematisieren, würde ja die Kultur der Mehrheitsgesellschaft angreifen. Dann lieber über den Islam schimpfen.

Der Vers aus Sure 4 lautet in der gängigen Übersetzung: „Und jene Frauen, von denen ihr Widerspenstigkeit befürchtet, ermahnt sie, lasst sie allein in ihren Betten und schlagt sie.“ Manche sagen, das Verb „adribûhunna“ sei mit „meiden“ statt „schlagen“ zu übersetzen. Plausibler ist, sich den historischen Kontext zu vergegenwärtigen. Doch über die sozialen Revolutionen, die der Islam im 7. Jahrhundert entfachte, spricht niemand. Zum Beispiel die Einführung von Rechten für Sklaven und Frauen. Weder die Sklaverei noch häusliche Gewalt oder Schweinefleischkonsum wurden explizit verboten. Die Auflagen glichen langfristig einem Quasi-Verbot: Möchtest du Schweinefleisch essen, musst du kurz vor dem Hungertod stehen. Möchtest du einen Sklaven halten, musst du ihn behandeln wie dich selbst. Möchtest du bei einem Ehekonflikt handgreiflich werden, musst du dich erst beruhigen, das Gespräch suchen, dich eine Weile trennen, dann symbolisch handeln. Ach ja, und Alkohol darfst du gar nicht trinken. Schwer zu schlucken für viele Männer, die es gewohnt waren Gewalt anzuwenden.

Eine solche Einordnung koranischer Inhalte hilft eher als eine allgemeine Verteufelung des Islams. Naheliegender ist, dass es Tätern nicht um Religion geht, sondern um einen Sündenbock. Wenn Journalisten über diesen Bock springen, indem sie im Koran die Ursache für das weltweite Problem männlicher Gewalt suchen, machen sie sich zu Erfüllungsgehilfen. Besser, wenn Leserinnen und Leser darauf keinen Bock hätten.

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