Keinen Saalschutz für totalitäre Veranstaltungen

Zurück ins Mittelalter Der CDU-Politiker Willy Wimmer warnt vor einer Ausweitung des deutschem Engagements in Afghanistan und der Gewöhnung an die Beliebigkeit von Kriegen

"Den Texanern ist es vollkommen egal, wo auf der Landkarte Europa liegt. Im Augenblick sind wir alle Texaner", schleuderte der Ex-US-Offizier und Buchautor Ralph Peters den Europäern seine Verachtung ins Gesicht (FAZ, 15. 5. 2003), und die haben offenbar verstanden. Die NATO hat an der archaischen Besatzungspolitik der USA im Irak nach außen hin nichts aussetzen und hilft, wo sie gebraucht wird. Was an Widerspruchsgeist in der EU geblieben ist, wird der Europäische Rat in dieser Woche zeigen. Anlass zu übertriebenen Erwartungen besteht nicht.

FREITAG: Sollen deutsche Soldaten in Afghanistan über Kabul hinaus operieren?
WILLY WIMMER: In Afghanistan machen sich noch die neunziger Jahre bemerkbar, als die Taleban für die Amerikaner "Our Boys" waren. Diese Art von problematischer Politik wird jetzt fortgesetzt, indem die Partner der USA erneut genötigt werden, deren eigenwilligen Vorstellungen zu folgen. Was speziell Herat angeht, so hat die Überlegung, dorthin zu gehen, keinen originär sachlichen Hintergrund - sie gehört zum Versuch des Bundeskanzlers, in Washington, speziell bei Präsident Bush, besseres Wetter zu machen.

Das mag ein politisches Motiv sein, wie steht es um das strategische? Von Herat ist es nicht weit bis zur iranischen Grenze.
Herat ist auf jeden Fall iranisches Interessengebiet. Da die EU seit Jahren eine andere Iran-Politik verfolgt als die USA, muss man die Sorge haben, dass durch ein Zumarschieren auf Herat die Europäer - damit auch wir - in eine andere, uns unangenehme Position gegenüber Teheran gedrängt werden sollen.

Erlaubt eigentlich der Bundestagsbeschluss vom 16. November 2001, auf den sich das deutsche Afghanistan-Engagement stützt, dessen Ausdehnung über Kabul hinaus?
Der Bundestag hat sich ja bei seiner damaligen Entscheidung, der ich nicht zugestimmt habe, etwas gedacht und das Mandat nur auf Kabul bezogen. Alles, was darüber hinaus geht, muss dem Parlament von Neuem vorgelegt werden.

Das weiß die Bundesregierung?
Ich denke schon, deshalb will sie eine Entscheidung erst nach der Sommerpause herbeiführen. Ich kann ihr nur empfehlen, bei einer neuen Beschlussvorlage auch eine Sicherheitsanalyse für die Lage in Kabul sowie ein Konzept für die politische Zukunft Afghanistans zu präsentieren. Die Vorstellung, wie sie noch Ende 2001 bestand - die Soldaten lächeln und winken mit den Armen -, wird der Sicherheitslage dort unten alleine nicht gerecht.

Wann ist die Schwelle zur Besatzungsmacht überschritten?
Wir erleben den Marsch in eine Grauzone. Man berührt in Herat das Reich des Ismail Khan, wodurch ein Spagat provoziert werden kann zwischen der Regierung Karzai in Kabul und diesem lokalen Machthaber. 150 deutsche Soldaten können da schnell überfordert sein.

Aber sie befänden sich im Einklang mit den Madrider Beschlüssen der NATO-Außenminister vom 3. Juni, beim Engagement der Allianz in Afghanistan und im Irak spürbar nachzulegen. Wie bewerten Sie diese Entscheidung?
Ein weiteres Zeichen dafür, dass die NATO von den Amerikanern als globaler militärischer und politischer Hilfssheriff gesehen wird, wie das auch mit dem beschleunigten Aufbau einer mobilen Interventionsstreitmacht (NRF) zum Ausdruck kommt, auf die sich gerade die Verteidigungsminister in Brüssel geeinigt haben.

Es gab 1997 - das ging damals am politischen Bonn genau so vorbei wie später am politischen Berlin - im US-Kongress eine Debatte darüber, wie man in der nördlichen Hemisphäre den NATO-Vertrag, das amerikanisch-japanische Sicherheitsabkommen und den Taiwan-Act - er regelt das Verhältnis Washington-Taipeh - am besten verknüpft. Seither gibt es eine konsistente Politik der USA, in die sich auch Bushs Nationale Sicherheitsdoktrin einordnet: die Verbündeten in Europa und darüber hinaus für die eigenen Interessen in die Pflicht nehmen und die vorhandenen Paktsysteme in ihrer Kompatibilität so entwickeln, dass - um ein Beispiel zu nennen - notfalls auch auf der koreanischen Halbinsel NATO-Verbände eingesetzt werden können.

Warum spricht niemand darüber in Berlin?
Weil niemand diese unbequeme Wahrheit wahrhaben will, obwohl die Fakten genau bekannt sind.

Im transatlantischen Verhältnis herrscht zur Zeit viel Morgendämmerung. Die deutschen Motive haben Sie angedeutet. Wo liegen die der Amerikaner? Gibt es in den USA die Angst, den Unilateralismus möglicherweise zu überdehnen?
Das wäre wünschenswert. Hört man allerdings die Trommler in Washington, scheint das Gegenteil der Fall zu sein. Um das zu verstehen, müssen wir uns nüchtern mit der US-Politik des vergangenen Jahrzehnts beschäftigen, bei der es Phänomene gab, die bei uns zu wenig wahrgenommen wurden. Clinton ist 1992/93 mit dem Ziel angetreten, die amerikanische Gesellschaft an europäische Kriterien heranzuführen: Er wollte die Ausbildung der jungen Generation sichern, ein allen zugängliches Gesundheitssystem, eine Rentenversicherung. Davon fühlten sich Leute wie Newt Gingrich - damals Sprecher der Republikaner im Kongress - herausgefordert und riefen zur konservativen Revolution, an der Clinton schon während seiner ersten Amtszeit gescheitert ist. Gingrich gehört heute - und das scheint mir recht aufschlussreich - zum Beraterkreis des Pentagon.

Nachdem seinerzeit innenpolitisch die Dinge im Sinne der konservativen Revolution bereinigt waren, folgte der außenpolitische Durchmarsch. Schon 1993 - unter Clinton - wurde in Washington von der Trias eigenständigen außenpolitischen Handelns gesprochen. Das hieß, die nationalen Interessen setzt man entweder allein oder mit der UNO oder den eigenen Bündnissystemen durch.

Für Sie beginnt der starke Hang zum Unilateralismus demzufolge schon in der Ära Clinton.
Es gab 1995/96 durch die chinesische, indische, japanische und indonesische Führung fast unisono die Vorstellung, dem in Europa entwickelten Helsinki-Prozesse auch in Asien zu folgen - also dem Prinzip, Spannungen durch Verhandlungen zu entschärfen. Damit war es vorbei, als die Welt 1999 beim Jugoslawien-Krieg erkennen musste, dass die USA einen solchen umfassenden Ansatz zugunsten einer Politik verworfen hatten, die Angela Merkel, der Papst und Gerhard Schröder inzwischen einhellig als Beliebigkeit des Krieges beschreiben. Dieses Denken begann schon unter dem Demokraten Clinton und hat dazu geführt, dass die Helsinki-Prinzipien heute nur noch bei den "Shanghaier Fünf" eine Rolle spielen - bei Russland, der Volksrepublik China, Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan. Ich denke, es kann Bündnissysteme zerreißen, wenn man sie nur noch nach eigener Beliebigkeit in Konflikte treibt.

Kann die Europäische Verteidigungsinitiative eine Alternative dazu oder gar ein Stück Gegenwehr sein?
Soweit würde ich nicht gehen. Nur soviel steht fest, ein besonderer europäischer Pfeiler der NATO ist nur denkbar, wenn auf europäischer Seite eine eigene verteidigungspolitische Identität erreicht wird. Ich kann keinen europäischen Pfeiler schaffen, wenn ich hier nur Treibsand habe und auf der anderen Seite, in Washington, die Betonblöcke stehen.

Welche Zukunft hat eine Europäische Verteidigungsidentität, wenn 2004 die EU-Osterweiterung vollzogen ist?
Möglicherweise ist sie ab 2004 nötiger denn je. Die Regierungen in Berlin und Paris müssen gerade dann europäische Führung zeigen. Dass andere sich daran beteiligen können, müssen und sollen, steht für mich auch außer Zweifel. Europäische Identität kann ja nicht nur heißen, in Washington nachzufragen, wie man es dort gern hätte.

Das klingt nach Rückkehr zur Kerneuropa-Idee, wie sie 1994 im Schäuble-Lamers-Papier auftaucht.
Alles anderes als das. Europäische Einigungspolitik muss mit der Seele gemacht werden. Ich habe gerade an einer öffentlichen Debatte teilgenommen, bei der Helmut Kohl die Überlegungen von Schäuble und Lamers in die Nähe einer Spaltungsidee gebracht hat.

Mit welcher Begründung?
Weil ein solches Denken der europäischen Entwicklung nicht angemessen ist. Wir sehen gerade bei der Diskussion um das so genannte neue Europa, dass es darauf ankommt - auch im Dialog mit den USA - die Grundfesten unseres Kontinents zu sichern -, und die bestehen in einem absolut vertragsbezogenen Zustand. Ein unilaterales Vorgehen, wie man es den USA attestieren muss, folgt dem Grundsatz: der Zweck heiligt die Mittel. Wende ich das auf Europa an, fallen wir in altes nationalstaatliches Denken zurück - das wäre das Ende für einen Zustand, der uns über 50 Jahre hinweg den Frieden gesichert hat.

Hat die jetzige US-Administration möglicherweise ein Interesse daran, dass genau dies passiert?
Davor habe ich schon beim Jugoslawien-Krieg 1999 öffentlich gewarnt. Was wir jetzt im Irak erleben mit den nicht vorhandenen Massenvernichtungswaffen, gab es 1999 mit dem Jugoslawien-Krieg in Gestalt der angeblichen humanitären Katastrophe, die am Vortag des Kriegsausbruchs darin bestand, dass in etwa neun der 1.900 Dörfer und Siedlungen des Kosovo Probleme bestanden. Aber die waren mit Sicherheit nicht von der Tragweite, die einen Krieg rechtfertigt. Wir erlebten damals schon eine Politik der Amerikaner, die sich gegen europäisches Selbstverständnis richtete. Ein Selbstverständnis, dem eine Form von Zusammenarbeit zu verdanken war, bei der es keine Rolle spielte, ob ein guter Gedanke aus Paris, Rom oder Bonn kam.

Unmittelbar vor Ausbruch des Irak-Krieges haben Sie in einem Interview für diese Zeitung gesagt, "wir müssen uns möglicherweise in einer Ordnung zurecht finden, die keinerlei Strukturen mehr hat ... - ich frage mich zuweilen, ob wir Sarajevo und dem Sommer 1914 näher sind als uns das bewusst ist". Sieben Wochen nach dem Irak-Krieg und unter dem Eindruck der Nachkriegsszenarien jetzt - fühlen Sie sich bestätigt?
Es ist schlimm, in dieser Hinsicht bestätigt zu werden. Aber ich sehe allein im Irak, dass vieles, was unsere Welt vor dem 19. März 2003 ausgemacht hat, aufgegeben wurde.

Inwiefern?
Weil es das Selbstverständlichste gewesen wäre - und im Übrigen auch unseren bisherigen Rechtsstandards angemessen -, jetzt im Irak eine zivile Verwaltung aufzubauen. Die UNO oder die EU oder auch die OSZE, weil es in unserer Nachbarschaft geschieht, müssten dort präsent sein. Aber die Amerikaner behalten sich vor, jeden, der ihnen nicht passt, an der Grenze abzuweisen. Sie haben eine Situation geschaffen, in der sie die totale Macht auf eine Weise ausüben, wie wir das seit Jahrzehnten in Europa nicht mehr erlebt haben.

Nun wird argumentiert, durch den Krieg sei mit der Macht des Faktischen ein neues Völkerrecht gesetzt worden. Horst Teltschik schreibt in der "Neuen Zürcher Zeitung", es sei an der Zeit, das Prinzip des Gewaltverbots aus der UN-Charta dem Recht auf Präventivkrieg gleichzustellen.
Inzwischen wird auch einer so genannten "demokratischen Intervention" das Wort geredet. Das läuft im Sinne von Carl Schmitt, der als Staatsrechtler in der Weimarer Republik sein Unwesen trieb, auf eine internationale Rechtsordnung hinaus, die dem Motto folgt, Recht ist, was dem Stärkeren nutzt. Deswegen habe ich so nachdrücklich auf den anderen Politikansatz des Helsinki-Prozesses aufmerksam gemacht. Niemand bestreitet, dass es auf dieser Welt schwere Konflikte gibt. Bloß wie nähere ich mich diesen Konflikten: durch die Verfügbarkeit des täglichen Krieges oder durch Verhandlungen und regionale Runde Tische? Für Letzteres lassen sich Erfolge vorweisen. Und was passiert dort, wo zuletzt militärisch interveniert wurde? Im Kosovo - Zukunft nach wie vor ungewiss. In Afghanistan - Terror allenthalben. Im Irak - ein Besatzungsregime. Bisher hat kein Militäreinsatz dauerhaft friedensstiftend gewirkt. Da verstehe ich wirklich nicht, wie da einer von neuem Völkerrecht reden kann. Das geht es in Wirklichkeit um die Scheinlegitimation klassischer Machtpolitik.

Warum regt sich dagegen kein Widerstand? Warum hat der UN-Sicherheitsrat nicht jüngst über ein Junktim abgestimmt - Aufhebung der Irak-Sanktionen, ja, aber nur bei Installierung einer UN-Administration für den Irak?
Ihre Frage verweist auf die Notwendigkeit, in Europa ein Bewusstein dafür zu schaffen, dass es so nicht weitergeht. Wenn ich nur an die Aktivitäten der Herren Habermas und anderer denke, dann ist man dabei, das zu tun. Die intellektuelle europäische Öffentlichkeit und die Völker Europas denken in die gleiche Richtung. Es fragt sich allerdings, ob die politisch Verantwortlichen in dem Empfinden leben, dass sie ihre Völker repräsentieren, oder wie Blair und Aznar weiter Washington folgen.

Klingt das nicht zu optimistisch?
Wir stehen am Anfang von Politik, nicht am Ende. Wer für ein neues Völkerrecht fernab des alten plädiert, dem muss man sagen, lest doch bei Kissinger nach, der erklärt: Wer traditionelles Völkerrecht beseitigt, der kehrt zu einem Zustand vor dem Westfälischen Frieden von 1648 zurück und führt uns ins Mittelalter - und das ist abartig. Man kann die Hybris amerikanischer Machtpolitik gar nicht besser beschreiben, als darauf hinzuweisen, dass eine Welt ohne Partner freiheitlich nicht gedacht werden kann. Wenn der Partner nur noch als Objekt, nicht mehr als Subjekt gesehen wird, dann ist das eine totalitäre Veranstaltung.

Das Gespräch führte Lutz Herden

Willy Wimmer ...

... ist seit 1976 Mitglied des Bundestages. Er war von 1988 bis 1992 Staatssekretär im Bundesverteidigungsministerium, danach von 1994 bis 2000 Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung der OSZE. Derzeit gehört er zum Auswärtigen Ausschuss des Parlaments und ist Stellvertretener Leiter der Bundestagsdelegation bei der Parlamentarischen Versammlung der OSZE. Wimmer verweigerte Ende 2001 einer Entsendung deutscher Soldaten nach Afghanistan seine Zustimmung.

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