Keiner schweigt für sich allein

Staatsgeheimnis Warum fürchtet der Staat sich vor der Aufklärung der RAF-Verbrechen? Fragen bei der Lektüre von Carolin Emckes Buch

Was immer man von dem Buch, dass die Journalistin Carolin Emcke in diesem Jahr vorgelegt hat, halten mag - eine große Offenheit gegenüber ihrem Thema und sich selbst kann man ihr nicht absprechen. Stumme Gewalt. Nachdenken über die RAF plädiert für einen anderen Umgang mit der Geschichte des deutschen Terrorismus aus der Erfahrung, dass die bisherige Form von Erinnerung und Aufarbeitung häufig an politischen oder psychologischen Grenzen geendet ist. Nach Heinrich Senfft (Freitag 28/29) legt nun Ulf G. Stuberger seine Lektüre von Emckes Buch dar.

Carolin Emcke denkt "immer noch an den Taxifahrer", der sie zum Tatort gebracht hat, an dem bis heute unbekannte Täter der RAF ihren Patenonkel Alfred Herrhausen ermordet hatten.

Ich erinnere mich immer noch an das zynisch-hämische Grinsen im Gesicht von Andreas Baader (dessen "selbstverliebte Gewalttätigkeit" die Autorin als "krampfige Impotenz eines Hochstaplers" beschreibt) nach den gezielten Morden von drei Menschen: Generalbundesanwalt Siegfried Buback, Wolfgang Göbel und Georg Wurster. Ich erinnere mich an die menschenverachtende Selbstüberhebung, die von Baaders nützlichen Idioten Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin (die, so Emcke, auf dessen "narzisstisches, gewollt heterosexuelles Gepluster" hereingefallen waren) und Jan-Carl Raspe in Stammheim zur Schau gestellt wurde, wenn ihre und ihrer Kumpane Morde zur Sprache kamen, und an deren verlogenes Politgefasel, mit dem sie vergeblich versuchten, ihre Fixierung auf Gewalt zu kaschieren, in der sie anmaßend sich dazu verstiegen, mit Vorbedacht und System zu töten - auch jene vollkommen unbeteiligten Menschen, deren Existenz sie in ihren Selbstbezichtigungsschreiben durch Verschweigen zusätzlich missachteten, also doppelt ermordeten. Der blindwütige Vernichtungsdrang dieser gescheiterten RAF-Existenzen erschien mir grenzenlos.

Ich erinnere mich an die zerschossenen Körper, die vor mir lagen in Karlsruhe, leblos auf dem Asphalt. Mein ganzes Leben lang verfolgen mich diese Eindrücke und sie lassen mich nicht los, weil bis heute nicht geklärt ist, wer am Gründonnerstag 1977 den Finger am Abzug hatte, und weil ich den Kindern der drei ermordeten Männer hier immer wieder einmal begegne. Ja, auch ich will wie Emcke, dass die Täter sprechen - und zwar alle! Vergessen wir nicht, dass es zwei Tätergruppen gab. Die RAF-Terroristen auf der einen und die Täter in Staatsdiensten auf der anderen Seite. Beide verstecken, verbergen, verleugnen bis heute. Darin sind sie sich einig - unausgesprochen? Wer weiß das schon.

Wer sich dem Trend des Vergessens und Verbergens nicht unterordnet, wird bestraft, mindestens mit dem Anwurf, Verschwörungstheorien zu verbreiten (deren Auftauchen ja immer ein Zeichen für mangelnde Transparenz des Staates ist). Der Sohn des ermordeten Generalbundesanwalts, Michael Buback, wird vom Staat inzwischen wie ein Querulant behandelt. Selbst die deutschen Medien scheinen an der Aufklärung des ersten politisch motivierten Attentats der deutschen Nachkriegsgeschichte nicht mehr interessiert. Je mehr Hinweise es darauf gibt, dass der Staat selbst in Verbrechen der RAF verwickelt gewesen ist, desto mehr ziehen sich die Medien von diesem Thema zurück und vernachlässigen ihre Pflicht, nämlich aufzuklären, was verborgen werden soll. Wir warten gespannt auf das Buch von Michael Buback.

Fordert Emcke wirklich das, was die meisten Medien aus ihrer Erzählung Stumme Gewalt herauslesen - Aufklärung statt Strafverfolgung? Nach der Lektüre bin ich anderer Meinung. Die Autorin wiederholt, vermutlich unbewusst, was ich seit langer Zeit öffentlich fordere: eine Wahrheitskommission nach südafrikanischem Vorbild, die sie "Forum der Aufklärung" nennt. Das beinhaltet Bestrafung durch Schmach und - wenn auch nur symbolische - finanzielle Wiedergutmachung und hindert den Staat nicht daran, doch noch aufzuklären, anzuklagen und zu bestrafen.

Der Titel von Emckes Buch irritiert und ist falsch. Stumm war die Gewalt der RAF nicht, sie war nervtötend laut wie eben die Schreie von Menschen sind, deren Körper durch schrapnellartige Splitter getroffen werden. Hunderte von zufällig an den Tatorten sich bewegende Menschen litten monatelang, einige bis heute, an Gehörschäden, so laut war die Gewalt der RAF. Diese Opfer zählen nicht für die Medien, die darin den Tätern folgen. Stumm sind die Täter nicht. Stumm ist der, der nicht reden kann. Die Täter könnten reden, wenn sie wollten. Sie wollen es nicht. Nicht die Täter, die ihre Finger an den Abzügen hatten und nicht diejenigen, die in Amtsstuben Gesetze brachen. Darin sind sich beide Tätergruppen einig: Schweigen. Der Titel Schweigende Gewalttäter wäre korrekt, wenn auch nicht so griffig.

Das große Schweigen zu brechen kann nicht gelingen durch Bitten, Betteln, Fordern. Das große Schweigen in Sachen RAF kann nur gebrochen werden, wenn die Medien dazu zwingen und unerbittlich ihre Finger in die offenen Wunden legen, wenn wir, Autoren und Journalisten, uns nicht kleinkriegen lassen, uns nicht unterordnen, den Mainstream verlassen, uns keine Scheren in die Köpfe setzen lassen, die automatisch das aus dem ungedruckten gedanklichen Manuskript ausschneiden, was nicht berichtet werden soll. Von allen Seiten wird versucht, uns diese Scheren in die Hirne zu pflanzen, auch mit der wirksamsten Keule des Kapitalismus - und nicht erfolglos, wie man lesen kann, weil man nichts mehr liest über jene Menschen, die beharrlich sind wie Michael Buback. Ja, es gibt neue Hinweise, Indizien, die zur Aufklärung der Karlsruher Morde führen könnten. Wo konnte man das lesen, hören, sehen?

Wenn man darüber schreibt, wird es zunehmend schwieriger, einen Verlag zu finden, der das druckt. Eine Armada hochkarätiger Anwaltskanzleien wird von den vorzeitig entlassenen RAF-Tätern gegen Medien in Stellung gebracht. Die verurteilten Mörder, welche angeblich aus Ablehnung gegen das "Schweine-System" gekämpft haben wollen, das Rechtssystem grundsätzlich ablehnten, nutzen es bis zum Exzess. Wer heute über einen der vorzeitig entlassenen RAF-Mörder schreibt, läuft Gefahr, mit Abmahnverfahren überzogen zu werden, die in jedem Einzelfall etwa tausend Euro kosten. Dabei geht es oft nicht um Tatsachenbehauptungen, sondern um juristische Spitzfindigkeiten, sprachliche Deutungen. Helfer auf Richterstühlen helfen. Ein Beispiel: In einem Zeitungstext wird darüber berichtet, dass "niemand" wisse, wo eine vorzeitig freigelassene RAF-Mörderin, die höchstwahrscheinlich mit dem deutschen Geheimdienst zusammen gearbeitet hat und vom Staat gedeckt wird, gewohnt habe. Ihre Anwaltskanzlei wendet sich nicht etwa gegen die Behauptung, sie sei Mitarbeiterin des Geheimdienstes gewesen und werde vom Staat gedeckt. Nur die Verwendung des Wortes "niemand" wird beanstandet: Der oder die Betreffende selbst habe ja immer gewusst, wo er/sie wohnte, also könne man nicht "niemand" schreiben.

In einigen Abmahnschreiben, die vorzeitig freigelassene RAF-Täter ihre Anwaltskanzleien herumschicken lassen, werden die Empfänger, Verlage und Journalisten, sogar dazu verpflichtet, kein einzige Wort über diesen Vorgang an die Öffentlichkeit zu bringen, also zu verheimlichen, dass für jedes einzelne Schreiben etwa tausend Euro in Rechnung gestellt werden. Kann man deutlicher machen, dass die Medien mundtot gemacht werden sollen?

Dem Staat ist es Recht. Er verdeckt, verschweigt, verbirgt und vertuscht in Sachen RAF, wo es nur geht. Ungezählte Akten zu diesem Komplex werden immer noch als Staatsgeheimnisse unter Verschluss gehalten, sogar neue Vorgänge werden zu neuen Geheimakten erklärt. Die Anzahl der Staatsgeheimnisse im Zusammenhang mit der RAF nimmt nicht ab, sondern zu. Die größte Schlappe der deutschen Nachkriegsjustiz soll unter dem Teppich bleiben: Keines der RAF-Verbrechen ist bislang aufgeklärt worden, da täuscht sich Emcke gewaltig, die lediglich die letzten Taten als unaufgeklärt beschreibt. Alle Verurteilten wurden nur als "Mittäter" bestraft. Warum fürchtet sich der Staat selbst vor Aufklärung und nimmt lieber den Vorwurf hin, unfähig gewesen zu sein? Wenigstens zur Beantwortung dieser Frage scheinen sich die Indizien zu verdichten.

14 (sic!) namentlich bekannte RAF-Mitglieder waren Mitarbeiter eines Geheimdienstes. Das ist keine Verschwörungstheorie, das lässt sich in den Urteilen gegen sie nachlesen, die drei Jahrzehnte lang unter Verschluss gehalten und erst jetzt einigen Journalisten in zensierter Form zu lesen gegeben wurden. Wie viele Geheimdienstmitarbeiter sind noch nicht bekannt, die in der RAF Verbrechen begangen haben? Die meisten Täter leben unerkannt unter uns oder sind inzwischen unerkannt gestorben. Es soll etwas nicht ans Tageslicht kommen. Mir fällt eine Entschließung des Europaparlaments vom 22. November 1990 ein. Darin werden alle europäischen Regierungen aufgefordert zu klären, wie weit sie und ihre Geheimdienste sich an Aktivitäten der internationalen Geheimorganisation "Gladio" beteiligt haben, von der man wisse, "dass militärische Geheimdienste (oder von den Diensten nicht kontrollierte Geheimdienstzweige) in bestimmten Mitgliedsländern mit schwerwiegenden Terrorakten und Verbrechen in Verbindung gebracht werden, wie in mehreren gerichtlichen Ermittlungen erwiesen werden konnte". Seit 18 Jahren hat Deutschland keine Aufklärung über die Beteiligung seiner Geheimdienste an Terrorakten (der RAF?) geleistet, sich der Erfüllung der Aufforderung des Europaparlamentes verweigert. Warum?

Dass es Kontakte zwischen westdeutschen und ostdeutschen "Dienststellen" im Zusammenhang mit der RAF gab, war bereits während des Stammheimer Prozesses ein offenes Geheimnis. Wie groß das Interesse von Geheimdiensten an diesem Strafverfahren war, konnte ich selbst bemerken, als man vergeblich versuchte, mich unter Druck zu setzen, damit ich parallel als Geheimdienstmitarbeiter tätig würde. Auch Emcke wundert sich, warum so viele Hinweise auf geheimdienstliche Verwicklungen unbeachtet bleiben. Sie träumt zuerst davon, einmal ganz allein mit RAF-Tätern zu sprechen, dann verwirft sie diesen Wunsch und fordert doch die Öffentlichkeit, ohne sich festzulegen, wie das geschehen soll.

Südafrika hat ein Beispiel gegeben. Straffreiheit wurde nur gewährt, wenn die Täter drei Bedingungen erfüllt haben: "1. Sie müssen in den Anhörungen die volle Wahrheit bekennen; 2. Sie müssen nachweisen, dass ihre Taten politisch motiviert waren; 3. Diese Taten mussten in den angewandten Mitteln in einem zu rechtfertigenden Verhältnis zum angestrebten Ziel stehen."

Wer jetzt wie Emcke Straffreiheit für redende RAF-Täter fordert, bringt keine neuen Gedanken in die Diskussion. Selbst unser geltendes Strafrecht gewährt geständigen Tätern Erleichterungen. Sie hätten reden können und können reden, RAF-Täter und Staatsbedienstete. Emcke hat mit Silke Maier-Witt gesprochen und war zufrieden, weil diese Täterin "nichts verschweigen" habe müssen und nichts ausgelassen habe. Woher weiß Emcke das? Warum wurde diese Täterin vorzeitig freigelassen? Warum alle anderen bis auf zwei - im Gegensatz zu vielen "normalen Kriminellen", die ihre Strafen absitzen müssen, im Gegensatz zu den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts. Das hat festgestellt: Die lebenslange Haft ist verfassungsgemäß. Sie kann bis zum Tod vollstreckt werden. Wenn ein verurteilter Mörder ausnahmsweise vorzeitig freigelassen werden soll, muss ein Gutachter eine positive Prognose erstellen. Darin kann er nicht, nein, er muss sich mit der Frage beschäftigen, ob der Freizulassende während der bis dahin erlittenen Haft sich intensiv mit seiner Tat auseinandergesetzt und das Unrecht seines Tuns eingesehen hat. Keiner der vorzeitig freigelassenen RAF-Täter hat diese Voraussetzungen erfüllt. Dennoch wurden sie freigelassen. Vielleicht gerade deswegen, weil geschwiegen wurde? Was gibt es zu verbergen in den geheimen Staatsakten? Wer übt einen so starken Druck auf die Täter aus, der bewirkt, dass kein einziger eine Lebensbeichte ablegt?

Nach Erscheinen meiner RAF-Bücher haben sich unmittelbare Tatzeugen zu mehreren RAF-Verbrechen bei mir gemeldet, die behaupten zu wissen, wer wann und wo geschossen oder gebombt hat. Namen von frei unter uns lebenden Personen seien den Behörden genannt worden (und sind es auch mir). Ermittlungen würden seit Jahrzehnten nicht eingeleitet, die Zeugenaussagen dieser Personen wurden in keinem Gerichtsverfahren verwendet - wie im Fall Buback. Auch freigelassene RAF-Täter und ehemalige Mitarbeiter von Justizbehörden haben sich bei mir gemeldet. Darum gebe ich die Hoffnung nicht auf, dass die Wahrheit noch ans Tageslicht kommt. Lebensbeichten und Beweise können erst nach dem Tod eines Menschen veröffentlicht werden. Das lehrt die Geschichte. Die Betroffenen sollten sich ihrer selbst nicht so sicher sein, dass sie ungeschoren davonkommen, ob sie die Finger am Abzug hatten oder in einer Amtsstube saßen.

Oder das Europaparlament hakte noch einmal nach.

Ulf G. Stuberger ist seit über 30 Jahren Korrespondent bei den Obersten Bundesgerichten und hat als einziger Journalist den Prozess in Stammheim durchgehend im Gerichtssaal verfolgt. Er geriet dadurch zwischen die Fronten von Staatsschutz und RAF, die seinen Namen auf ihre "Abschussliste" setzten. Daraufhin verließ er Deutschland, kehrte 2003 aus Afrika zurück und schrieb drei Bücher zum Thema RAF, etwa Die Tage von Stammheim. Zuletzt erschien von ihm in diesem Jahr Ich war ein weißer Farmer in Afrika (alle Titel bei Herbig, München).

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