Kilchenmann und der Kontrapunkt

Musik Ein Schweizer Komponist hat Anna Seghers Roman "Das siebte Kreuz" als Vorlage für eine Komposition genommen. Anlässlich von Seghers 30. Todestag wird sie nun aufgeführt

Wer zu Schulzeiten in den Genuss eines fundierten Musikunterrichts kam, der weiß, dass Kontrapunkt die Lehre der selbstständigen Stimmführung ist. Sie erklärt, auf welche Weise beim Komponieren eigenständige Stimmen miteinander kombiniert werden, so dass sie im Zusammenklang ein harmonisches Fortschreiten ergeben. Mit diesem Wissen konnte man sich dann zu später Stunde auf Studenten-Partys brüsten – im besten Fall erschließt es jedoch den Zugang zu formtechnisch komplexer Musik, wie der von Marc Kilchenmann.

Die Uraufführung seiner Anna-Seghers-Tetralogie für Streichquartett und Traversflöte Jeder Schritt ist immer nur der vorletzte nach dem Roman Das siebte Kreuz stand am vergangenen Donnerstag im Mittelpunkt einer Konzertveranstaltung in der Gedenkstätte KZ Osthofen. 1942 diente es der Schriftstellerin Anna Segehrs als Vorlage für das fiktive KZ Westhofen in ihrem Exil-Roman Das siebte Kreuz.

Die Konzertveranstaltung selbst drohte in ihrer ebenfalls kontrapunktischen Struktur, um nicht zu sagen ambitionierten Polyphonie, ein ums andere Mal auseinanderzubrechen. Denn neben dem Konzert des Satie-Quartetts mit Werken von Kilchenmann galt es noch ein paar andere Programmpunkte zu bewältigen: eine teils szenische Lesung von Schülerinnen und Schülern der IGS Anna-Seghers, die Darbietung des Barock-Ensembles „Minerva Banquet“ sowie eine moderierte Gesprächsrunde um nur einige zu nennen. Doch vor allem die inhaltliche Dramaturgie, die sich nicht auf das transmediale Verhältnis von Musik und Roman beschränken lassen, sondern gleich noch eine intertextuelle Ebene zur polyphonen Musik Johann Sebastian Bachs sowie wiederum dessen Verbindung zu Quintilian aufzeigen wollte (alles übrigens im Kontext des von Camus inspirierten Motto des „Neinsagens“), sprengte schlichtweg den Rahmen und weckte den Verdacht einer gewissen Willkürlichkeit bei der Konzeption.

Marc Kilchemanns Tetralogie für Traversflöte nun aber war äußerst lohnenswert: Das Werk reflektiert vier Episoden des Seghers-Romans, der sich in seiner narrativen Struktur durch das kaleidoskopische Zusammensetzen stetig wechselnder Perspektiven auszeichnet. Die Komposition nimmt dabei Aspekte des Handlungsverlaufs und der Personenkonstellation auf. So beschreibt beispielsweise der erste Teil die unterschiedlichen Fluchtwege der sieben Häftlinge, von denen nur einer das Exil erreicht. Gerade die Relation der Romanfiguren, beziehungsweise die kontrapunktische Führung der Handlungsstränge zueinander, stellten beim Komponieren zentrale Parameter für Kilchemann dar. Die Tonsprache bleibt dabei im ganzen Zyklus abstrakt und gleitet niemals ins Lautmalerische ab. Es entsteht also keine programmatische Vertonung des Romans, sondern ein „Opera Aperta“, das unterschiedlich lesbar ist

Es ist eine komplexe und interessante Komposition, die neue Perspektiven auf den Roman erschließt. Am 1. Juni, wenn sich Anna Seghers Todestag zum 30. Mal jährt, wird sie noch einmal im Kunstquartier Bethanien in Berlin zu hören sein.

Termine und weitere Informationen unter anna-seghers.de

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