Im Jahr 2006 riskierte der damalige SPD-Vorsitzende Kurt Beck eine kesse Lippe. Er sprach von „Unterschichten“. Eine Tabuverletzung, die in der damaligen Großen Koalition kein Pardon fand. In der sozialen Marktwirtschaft kann es per definitionem keine „Unterschichten“ geben, höchstens Sozial- und Härtefälle, hieß es. Das inkriminierte Wort galt im großkoalitionären juste milieu als ein Synonym für „Klassenkampf“, vermeintlich Vorgestriges. „Unterschicht“ – das gibt es bei uns nicht.
Auch Frankreichs Premier Manuel Valls geriet aufs Glatteis, als er Ende Januar von einer „territorialen, sozialen und ethnischen Apartheid“ sprach, mit der „tägliche Diskriminierungen“ verbu
rungen“ verbunden seien für Menschen mit „falschem“ Familiennamen, „falscher“ Hautfarbe oder „falschem“ Geschlecht. Außer dem Begriff „Apartheid“ gebrauchte Valls noch das Wort „Ghetto“. National statt sozialmarktwirtschaftlich eingefärbt, traf er auf den gleichen Widerspruch wie einst Kurt Beck: „Apartheid“ und „Ghetto“ – das gibt es bei uns nicht.Solche Realitätsverweigerung ist genauso abstrus wie der mediale Schnellschuss bei Terror-Attentaten. Präsident François Hollande sprach nach dem Anschlag auf das Magazin Charlie Hebdo vom „Krieg gegen den Terrorismus“, den man jetzt führen müsse. Wofür es 736 Millionen Euro Staatsgeld geben soll. Da sich zwei der Terroristen als „Gelegenheitsmuslime“ verstanden und erst im Gefängnis zum Islamismus bekehrt wurden, verlangte Manuel Valls, die Haftbedingungen zu verschärfen. Um Radikalisierung zu verhindern, gehörten festgenommene Muslime in Einzelhaft.Justizministerin Christiane Taubira widersetzte sich sofort – wegen des Gebots rechtlicher Gleichbehandlung und wegen eines humanen Strafvollzugs. Und sie wies darauf hin, dass sich 84 Prozent der wegen islamistischen Terrors Inhaftierten nicht inner-, sondern außerhalb der Gefängnisse radikalisiert hätten.Damit war das Thema „Sicherheit“ durch. Die Debatte wandte sich realen Defiziten bei der Integration von Jugendlichen aus Einwandererfamilien zu, angestoßen durch Valls’ Hinweis auf „Apartheid“ und „Ghettos“. Natürlich gibt es Gründe, diese ahistorische Terminologie abzulehnen. Die Apartheid, wie sie in Südafrika herrschte, übertraf an Menschenverachtung die Verhältnisse in den französischen Banlieues bei weitem. Und der Unterschied zwischen dieser sozialen Peripherie und nationalsozialistischen Ghettos bedarf keiner Erläuterung. Insofern lag Valls mit seiner Semantik, die „Realitäten benennen wollte, wie sie sind“, völlig daneben.Trotz der anachronistischen Wortwahl traf der Premier den Kern der Probleme, denn seit Jahrzehnten wird über Defizite der französischen Stadtpolitik geklagt. Der erste „Banlieue-Plan“ einer Regierungskommission erschien 1977, es folgten bis 2013 neun weitere. Die Reformvorschläge wechselten, aber die Konflikte blieben. Ein Grund dafür liegt darin, dass niemand weiß, was – soziologisch und statistisch gesehen – in den Vorstädten das Wort „Realität“ eigentlich meint. Dies wissenschaftlich zu erfassen, verbietet ein eherner Grundsatz des französischen Laizismus, der „ethnische Statistiken“ erschwert, wenn nicht unmöglich macht. Schulstatistiken etwa enthalten keine Informationen über Religionszugehörigkeit, soziale und ethnische Herkunft der Eltern. Der Staat lebt in und von der absurden Fiktion, wonach alle Franzosen zuerst und nur Franzosen sind.Verriegelter ArbeitsmarktDieser Rigorismus immunisiert gegen die Wirklichkeit. Die erste Studie der Soziologen Georges Felouzis und Joëlle Perroton, die 2005 überhaupt einen klaren Blick auf die soziale Zusammensetzung in Schulen einer Großstadt ermöglichte, musste sich eines Tricks bedienen, um die gut 144.000 Schüler in Bordeaux sozialstatistisch zu erfassen. Die Soziologen fragten nach den Vornamen wie der Nationalität und fanden heraus, dass in 333 Schulen 4,7 Prozent der Schüler aus der Türkei, Nord- oder Schwarzafrika stammten. 40 Prozent dieser Schüler besuchten gerade einmal zehn Prozent der Schulen, das heißt, sie wurden separiert und gleichsam kaserniert. Die Autoren sprachen von einer „starken Tendenz zur Ghettoisierung dieser Schulen“.Offenbart wurde ein Versagen staatlicher Politik auf mehreren Ebenen. Für französische Schulen gilt das Wohnortprinzip, demnach müssen Kinder dort zur Schule gehen, wo sie wohnen. Doch dulden Schulverwaltungen seit Jahrzehnten, dass „weiße“ Eltern ihre Kinder dort anmelden, wo sie unter ihresgleichen sind. Auch die Präferenz für Deutsch statt Englisch als erste Fremdsprache sorgt für die Trennung nach Hautfarbe.Andererseits reproduziert die Schule nur das Versagen staatlicher Städtebaupolitik. Alle bisherigen Banlieue-Pläne sollten die soziale Durchmischung der Wohnareale fördern. Nach 1990 wurden Siedlungen, die sich zu Armenghettos entwickelt hatten, sogar gesprengt, um neu konzipierten Sozialwohnungen Platz zu machen. Deren chaotisch organisierte Belegung erzeugte mangels verifizierbarer Kriterien in kurzer Zeit wieder die Tendenz zur Ghettoisierung ethnischer Minderheiten und prekär Beschäftigter. Um dem daraus folgenden Notstand an den Schulen abzuhelfen, erfand man Ende der 90er die „Zones d’Éducation Prioritaire“ (ZEP), also Bezirke mit bevorzugter Bildungsversorgung, die finanziell großzügiger bedacht wurden.Aber dieses Privileg verpuffte, da die Schulverwaltungen fast nur junge Lehrer ohne Berufserfahrung an die Brennpunktschulen verdonnerten, wo sich nach aller Erfahrung nur gestandene Lehrkräfte durchsetzen können. So verkam der Unterricht zur Farce. Die Junglehrer sahen sich hoffnungslos überfordert. Was vom ZEP-Konzept blieb, waren ausgelaugte Pädagogen, hohe Zäune um Schulareale und Polizisten vor den Portalen. An diesen Anstalten erreichen heute nur 40 Prozent der Schüler das Niveau eines Hauptschulabschlusses. Ohne dieses Zeugnis, mit „falschem“ Namen und „falscher“ Adresse bleibt der Arbeitsmarkt verriegelt.An dieser „schulischen Apartheid“ kommt niemand vorbei. Der Soziologe Gérard Noiriel spricht von der Vervielfältigung sozialer und ethnischer Probleme in den Banlieues. Dabei handelt es sich keineswegs um ein „Problem der Einwanderung“ oder gar der „Integration von Muslimen“. Insofern führt die Rede von den „Banlieues des Islam“ nur ins feuilletonsoziologische Abseits. Wenn dort 47 Prozent der unter 29-Jährigen keine Arbeit finden, hat das keine religiösen Gründe. Massenarbeitslosigkeit ist der zentrale Faktor der Exklusion seit über 30 Jahren. Darauf hat noch keine Regierung in Paris auch nur den Ansatz einer Antwort gefunden.