Trödler der Menschheit" nannte der italienische Philosoph Giorgio Agamben Kinder und wähnt sie damit in einem Schutzraum des Privaten. Das ist in unseren Tagen passé. Zum einen verbringen heute bereits die Jüngsten einen großen Teil des Tages im Kindergarten oder in der Schule. Zum anderen sollen Abiturienten die Schule schneller durchlaufen, wodurch sich ihre Kindheit wiederum verkürzt. "Das hat Konsequenzen", meint die Bielefelder Erziehungswissenschaftlerin Sabine Andresen. "Wenn heute bereits mit zehn, elf Jahren die Jugendphase beginnt, steht auch für die frühen Bildungserfahrungen und Bildungsprozesse nur noch ein begrenzter Zeitraum zur Verfügung." Diese werden mit besonderer Intensität erfahren - vorausgesetzt, die Erwachsenen lasse
ssen sich darauf ein, indem sie die Kinder in ihren Entwicklungsprozessen begleiten, ihnen Aufgaben stellen, Fragen beantworten, Rückmeldungen geben. Dafür aber ist Zeit nötig, und die wird knapp. Seitdem die PISA-Studien in aller Munde sind, dominiert ein Bild von Kinde, das sich auf das zukünftige Humanvermögen konzentriert. Danach müssen Kinder gut ausgebildet werden, um den Wohlstand der Gesellschaft sichern. Forschung, die sich mit der Effizienz der kindlichen Entwicklung beschäftigt, erfreut sich deshalb bester Förderung. Ein ganz anderes Bild vom Kind wird von denen vertreten, die möchten, dass Mädchen und Jungen um ihrer selbst willen geliebt und gefördert werden, damit sie als Staatsbürger auch heute schon ihre Rechte wahrnehmen können. Dies erfordert andere Kriterien als nur die Lese- und Rechenleistung von Schülern in den Blick zu nehmen. Vielmehr geht es darum, ob Kinder gesund sind, welche Beziehungen sie zu den Eltern und ihren Freuden unterhalten, welchen Risiken sie zuhause oder im Alltag ausgesetzt sind, ob sie in einer begüterten oder einer sozial benachteiligten, in einer sesshaften oder mobilen Familie aufwachsen. "Die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft", so der Berliner Soziologe Hans Bertram, Autor des UNICEF-Berichts zur Lage der Kinder in Deutschland, "darf sich nicht nur auf die Wirtschaftskraft der Kinder stützen. Sie wird auch wesentlich vom Wohlbefinden der Kinder geprägt." Ein auf Schulnoten und Abschlüsse fixierter Blick übersieht außerdem, dass Kinder schon früh produktiv für die Gesellschaft tätig sind - nicht nur in der Schule, sondern auch als Helfer in der Familie, engagiert im Verein, als Künstler und Sportler. "Wir brauchen mehr Wissen darüber, wie Kinder beispielsweise die Schule als Arbeitsplatz erleben. Aber auch, welche Vorstellungen sie haben, sich in die Gesellschaft einzubringen", so der Hallenser Sozialpädagoge Thomas Olk.Bereits bei den unter fünfjährigen Kindern, so das interessante Ergebnis einer Befragung, schätzt ein Drittel die eigene Lebenssituation in der Familie deutlich anders ein als die Mütter. Das Kinderpanel des Deutschen Jugendinstituts zeigt, dass bereits Kinder mit zehn oder elf Jahren über ein stabiles Selbstvertrauen verfügen, beeinflusst von ihrer Lebenswelt und ihrer Persönlichkeit. Ihr Sozialverhalten trainieren sie deutlich besser und intensiver unter Gleichaltrigen. Immer schon war die Freundesclique eine wichtige Sozialisationsinstanz und ein verschworener Ort früher Privatheit. Doch wie viel Gelegenheit bietet beispielsweise die heutige Ganztagsschule, um Freiräume auszuloten und Freundschaft auszuleben? Das aber wäre nach Sabine Andresen ein wichtiger Indikator dafür, wie sich Kinder mit der Einrichtung identifizieren, ob sie sich dort wohlfühlen und lernen, auch Frustrationen ertragen. Von Haus aus ist inzwischen die Mehrheit der Kinder gewohnt, dass ihr Wort zählt. Das Elternhaus ist ein Verhandlungsort. Thomas Olk beobachtet, dass diese Partizipation in öffentlichen Einrichtungen endet. Noch wissen auch die Kindheitsforscher zu wenig darüber, wie die nun auch durch die UN exekutierten Kinderrechte im Alltag eines Kindergartens oder einer Schule gelebt werden können. Einig sind sie, dass von diesen abseits der Familie stattfindenden Aushandlungsprozessen vor allem Kinder aus sozial benachteiligten und bildungsfernen Schichten profitieren würden. Die Weichen für deren Bildungserfolg werden ohnehin nicht in der schulischen Wissensvermittlung, sondern in informellen Bildungszusammenhängen in den Familien gestellt. US-amerikanische Studien zeigen, dass Kinder aus sozial schwächeren Familien zu Hause in der Regel einen anderen Erziehungsstil erleben als er in öffentlichen Bildungs-, Erziehungs- und auch Gesundheitseinrichtungen üblich ist. Oft scheitern die Familien an solchen Vorbildern und werden dann als defizitär wahrgenommen. Am Esstisch, bei Freizeitunternehmungen und im Urlaub, im Verein oder in der Musikschule üben Kinder je nach Herkunft eine selbstbewusste Bildungshaltung ein, die sie nach Einfluss und Anerkennung streben lässt - oder auch nicht. Im letzteren Fall nehmen sie die Schule dann als ein notwendiges Übel wahr, das ängstlich vermieden wird. "Kinder brauchen in der Schule deshalb Gelegenheiten, diesen anderen Bildungshabitus zu entwickeln", betont der Marburger Soziologe Peter Büchner. Die Chancen von Kindern hängen davon ab, dass sie ihre Kompetenzen in ihrem jeweiligen Milieu bestmöglich entwickeln können. Diesen Unterschieden, so die Forscher, hätte nicht nur die Wissenschaft, sondern auch die Politik Rechnung zu tragen.
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