Ist es die viel strapazierte "List der Vernunft" oder woran liegt es, dass Volker Brauns jüngstes Stück Was wollt ihr denn doch nicht - wie schon vor zwei Jahren angekündigt - am Berliner Ensemble, sondern am Neuen Theater in Senftenberg uraufgeführt wurde? Genau besehen gehört das Stück seiner geistigen Verortung nach tatsächlich viel eher an diese "Provinzbühne", die bis zur Wende den Namen "Theater der Bergarbeiter" getragen hat. Im Senftenberger Braunkohlenrevier hat die intellektuelle Sozialisation Volker Brauns begonnen, als er sich die Zulassung zum Philosophiestudium durch Einsatz in der Produktion im Wortsinn erarbeiten musste. Mit dieser Arbeit "vor Ort" begann sein Nachdenken über das, was Menschen wollen, können und sollen, das
llen, das schließlich zum Vorausdenken über "keinen Ort", die Utopie, werden sollte. Das paradoxe Ergebnis besteht freilich darin, dass er sich jetzt mit dem Stück Was wollt ihr denn ausgerechnet an dem historisch richtigen Theater für die Uraufführung vom Theater als utopischem Ort verabschieden will, weil es "vom Leben eingeholt wird".Mit der Region der Lausitz ist zumindest der Handlungsstrang des neuen Stückes verbunden, in dem gezeigt wird, wie der Arbeitslose Manne Krüger aus Guben dank nachgeschickter Stütze sich am Strand von Ostende in Belgien als Dauercamper unter Pennern wie ein King aufführen kann. Die Störung der Strandidylle beginnt mit zwei dubiosen Geschäftsleuten und ihrem Polizeiagenten, die auf Strandgut besonderer Art aus sind. Auf Flüchtlinge, die dort ausgesetzt oder abgefangen werden, um sie unter Versprechungen vom angenehmen Leben zu Spendern von Blut zu machen, das sich dann mit allerhöchster Rendite vergolden lässt. Opfer wird erst der von Schleppern über Bord geworfene Flüchtling Kabile, nachfolgend seine "gerettete" Schwester Houria, die sich unerwartet wiederfinden. Als Kabile durch Wohllebe sein Blut zu verunreinigen droht, wird die Schwester geschändet, um ihn "zur Vernunft" zu bringen. Er aber dreht danach durch und lässt sein kostbares Blut vor den Augen der Geprellten und des mit ihnen durchaus konformen Manne Krüger in den Sand von Ostende strömen. Houria wird von Marianne, der Ehefrau Mannes, die den Aussteiger ausfindig gemacht hat, mit nach Guben genommen, auch wenn dort, wie erinnerlich, vor Jahren ein Asylant in den Tod getrieben wurde, während Manne unter dem Einfluss des "Zeitgeists", sprich "Bildzeitung" mit der Frage: "Was willst du denn!" nicht zurande kommt und überschnappt.Was hier so schlüssig berichtet wird, trägt sich in einer äußerst reduzierten Dialogik zwischen handelnden Figuren zu, die viel stärker als Typen denn als "individuelle Charaktere" angelegt sind. Ihre Sprache sind hauptsächlich Sprüche, die verblasste Metaphern durch weitere Verhunzung zum Jargon heutiger Eigentlichkeit werden lassen. Szenenfolgen vermengen sich: "Nichts was so ist, ist so." Es ist nur folgerichtig, dass Braun die Typage durch Allegorien ergänzt: "Der Zeitgeist", der zu Beginn noch einzig im Theater eine unerledigte Widerständigkeit beklagt, verflüchtigt sich nach Schwadronieren über leere Mitte und uferlose Debatten zum Schluss, als sich der Autor selbst darstellt und angesichts der Verwandlung des Moskauer Musicaltheaters in eine "Theaterhölle" bekennt: "Ich bin mit der Kunst am Ende; nur die Übertreibung ist wahr."Was weder das Berliner Ensemble noch andere Bühnen wagten, sich diesem komplizierten, vielschichtigen Text zu stellen, hat nun das Senftenberger Neue Theater versucht. Unter der Regie von Intendant Sewan Latchinian wird die "verkehrte Welt" schon damit deutlich gemacht, dass die Zuschauer auf der Bühne platziert sind. Durch den Blick in Parterre und Rang wird gleichsam ein weiter Horizont suggeriert (Ausstattung: Tobias Wartenberg). Hinter der idyllischen Strandburg mit ordentlich gereihten Dosenbierbatterien tut sich nicht nur Meer, sondern elende Welt auf, die Flüchtlinge in den Wohlstand spuckt und schließlich Touristen und Terroristen ununterscheidbar macht, wie der "Zeitgeist" beklagt. Heinz Klevenow gibt den arbeitslosen King mit Goldpapierkrone und Selbstzufriedenheit, von Pennern hofiert und bewedelt. Gestisch-ausdrucksmäßig weitaus exzentrischer geben sich die dubiosen Geschäftsleute und der Polizeiagent, dargestellt durch Axel Wandke, Lutz Aikele und Mirko Zschocke: Typen zwischen Mafia, New Economy, Korruption, denen es nur um eins geht: Geld. Die unfreiwilligen Strandgüter Mensch, Kabile und Houria, werden nicht als andersfarbige Exoten, sondern einfach als "fremde Weiße" präsentiert. Die zu bekundende Naivität der Flüchtlinge, dargestellt von Oliver Seidel und Juschka Spitzer, wird damit freilich auch über Strecken zu einem nicht überzeugenden So-tun-als-ob. Mit spektakulären Mitteln zur Schau gebracht schließlich die Selbstverblutung Kabiles vor den Augen der Blut-zu-Gold-Macher. Hochgetrieben auch das Sich-nicht-mehr-zurecht-Finden von King Manne, während seine Frau Marianne (Catharina Struwe) mit Houria nach Guben zurück macht. Sewan Latchinian setzt als Schauspieler selbst den überraschenden, wenn er ernst gemeint ist, sehr bedauerlichen Schlusspunkt: Das Selbstbekenntnis des Autors angesichts der heraufbeschworenen Schreckensbilder von der Umverwandlung des Moskauer Musicaltheaters in eine "Hölle", mit der Kunst des Theaters am Ende zu sein.In jedem Falle Anerkennung für das Ensemble des Neuen Theaters in Senftenberg, einem Theaterstück zu Erscheinung wie Transparenz verholfen zu haben, das inhaltlich wie formal alle Unvereinbarkeiten, Dichotomien und Aporien des heutigen Weltzustands in und an sich selbst trägt.
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