Schon ein 20prozentiger Abbau nationaler Schutzmechanismen für Agrar- und Industrieprodukte sowie für Dienstleistungen, verkündet die EU-Kommission forsch, brächte weltweit einen jährlichen Zugewinn von 150 Milliarden Dollar. Würden die Mauern um die nationalen Märkte gar zur Hälfte abgeräumt, summierte sich der Finanzschub auf fast 370 Milliarden Dollar. Zur Vollendung des rosigen Gemäldes wird behauptet, alle Weltregionen würden von diesem Boom profitieren.
Doch scheinen die Propheten von Letzterem selbst nicht vollends überzeugt. Denn vor Seattle lieferten sich die großen Handelsblöcke eine erbitterte Fehde um die Frage, über welche Liberalisierungsschritte überhaupt verhandelt werden soll. Die USA streben na
streben nach schnellen Einzelergebnissen und zwar nur dort, wo sie neue Märkte zu erobern hoffen - etwa bei Dienstleistungen oder Agrarexporten. Europäer und Japaner wollen stattdessen in ganzer Breite vorgehen, um viele Schleusen zu öffnen, zugleich aber im Agrarhandel und bei der Kultur Konzessionen herauszuholen. Für die 15 großen Agrarexporteure der Cairns-Gruppe - darunter Australien, Argentinien, Kanada und Neuseeland - gibt es nur ein einziges Thema: Freihandel für Rindfleisch, Weizen und Futtermittel. Hier lockt ein enormes Exportpotenzial, das durch die zunehmende Weltbevölkerung und steigenden Wohlstand - vor allem in Asien - an Bedeutung gewinnt. Für die USA als weltweit größtem Agrarproduzenten ist die Landwirtschaft überdies der Schlüssel zum Ausgleich ihrer chronisch negativen Handelsbilanz. So zählte Präsident Clinton die Europäer zuletzt mehrfach heftig an, sie verzerrten mit der milliardenschweren Subventionierung ihrer Landwirtschaft den Welthandel. Die allzu zaghafte Reform der EU-Agrarpolitik müsse erheblich nachgebessert werden.Gerade bei Subventionen allerdings sind auch die Amerikaner alles andere als unverwundbar. Nach OECD-Angaben subventioniert die EU ihre Bauern jährlich mit umgerechnet 142 Milliarden Dollar, während die USA 100 Milliarden springen lassen. Im Agrarhaushalt 1999 spendierte Washington zusätzlich sechs Milliarden, um dem heimischen Nährstand über die Exporteinbrüche wegen der Asien-Krise hinweg zu helfen. Pro Landwirt, parierte EU-Agrarkommissar Franz Fischler Angriffe aus Washington, seien die US-Subventionen sogar höher als die europäischen.Doch die USA haben sich nicht nur zielgenauer auf fragwürdige EU-Exportsubventionen eingeschossen, sie wollen vor allem mit Brachialgewalt den ungehinderten Absatz für ihre vom europäischen Verbraucher geschmähten Gen-Produkte durchdrücken. Der leidige Bananenkonflikt und das Tauziehen um das hormonbehandelte Billig-Fleisch aus den USA erlauben einen Vorgeschmack auf den zu erwartenden Schlagabtausch in Seattle.Der Einsatz, um den in den Agrarverhandlungen der Welthandelsrunde gepokert wird, ist weit größer, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Für die EU geht es um das größte Stück aus dem Kuchen des wachsenden Weltagrarmarktes oder die Sicherung der Pfründe ihrer Landwirte. Und die sind in existenzieller Weise bedroht. Getreide kann in Europa nur noch an wenigen Standorten - etwa im Pariser Becken oder auf den Großflächen der LPG-Nachfolger in Mecklenburg-Vorpommern - zu ähnlichen Kosten produziert werden wie in Kanada, den USA oder Australien. Die Rindermast müsste wohl zur Gänze den Farmen in Texas oder in der argentinischen Pampa überlassen werden. - Wer den totalen Freihandel und weitere drastische Subventionskürzungen in der Landwirtschaft hinzunehmen bereit ist, muss die Fragen nach zusätzlichen Arbeitsplätzen für 4,6 Prozent der EU-Erwerbsbevölkerung, der Zukunft verödender Regionen oder den Perspektiven des Tourismus in sterbenden Kulturlandschaften beantworten. Die Folgen ungebremster Globalisierung können mancherorts schon besichtigt werden - etwa in den Schweine- oder Geflügelmastfabriken, die infolge der schon früher eingeführten Liberalisierung des Futtermittelhandels im Umkreis der großen westeuropäischen Häfen aus dem Boden geschossen sind. Es lohnt ein Blick in deren Medikamentenlager - in Anlagen mit Zehntausenden eng aneinander gepferchten Tieren lässt sich dem hohen Seuchendruck nur durch tägliche Antibiotika-Beigabe zur Futteration begegnen. Soll die Zukunft der EU-Landwirtschaft in solcher Billigmast mit Importfutter liegen? Mit Mais oder Sojaschrot aus Übersee können fast nur noch industriell verfertigte Tierkadaver-Mehle oder Kraftfutter-Mischungen konkurrieren, denen legal oder illegal von gebrauchtem Fritieröl bis zu Klärschlamm so ziemlich alles beigemengt wird, was ein Tiermagen irgendwie verdauen kann. Der belgische Dioxin-Skandal lässt grüßen.Die EU hat sich zumindest vorgenommen, einige Symptome zu kurieren und in den WTO-Verhandlungen Fragen des Tier- besonders aber des Verbraucherschutzes oder der Sicherheit von Lebensmitteln mit Nachdruck zu vertreten. Die inzwischen auch in Nordamerika aufkeimenden Zweifel an den Segnungen der grünen Gentechnik und die Orientierung großer europäischer Handelsketten an der Nachfrage ihrer Kunden können die Diskussion nur bereichern.Wie sich zeigt, sind die Konfliktfelder bei der Liberalisierung des Welthandels durchaus ergiebig. Besonders erbittert wird allein schon in der EU um die Kultur gestritten. Vor allem Frankreich pocht mit Leidenschaft darauf, keineswegs auf Regelungen zum Schutz seiner kulturellen Identität zu verzichten. Präsident Chirac hat gerade noch einmal erklärt, dass künstlerische Werke auch in der heutigen Informationsgesellschaft keine Ware wie jede andere sein dürften.Asterix will die Unabhängigkeit seines kleinen gallischen Dorfes nach dem Sieg über Rom nun auch gegen Hollywood verteidigen. Es könne keine kulturelle Vielfalt ohne Austausch geben, so Chirac, aber auch keinen Austausch ohne Respekt vor einem gewissen Gleichgewicht. Dahinter stehen nicht allein Befürchtungen, kulturell von der angelsächsischen, vor allem US-Kultur überrollt zu werden, sondern milliardenschwere Interessen der Film- und TV-Branche. Während der Marktanteil amerikanischer Filme in Europa 60 Prozent übersteigt, erreichen europäische Film- und Fernsehproduktionen in den USA klägliche drei Prozent. Die Gründe liegen kaum in der Qualität, vielmehr bleiben französische Programme in US-Kabelnetzen praktisch abgeklemmt, während in ganz Europa immer neue US-Sender zugeschaltet werden. Schließlich sollen die Filmförderung und die Finanzierung eines öffentlich-rechtlichen Fernsehens nicht auf dem Altar einer liberalisierten Weltwirtschaft geopfert werden.