"Auf die Plätze, fertig, LOS!" verkündet ein Plakat in der Berliner Humboldt-Universität. Auf dem Fußboden liegen Bettlaken zur Beschriftung ausgebreitet, Studenten suchen sich eine Übersicht über die geplanten Streikaktivitäten zu verschaffen und die Termine der Arbeitsgruppen in ihre Kalender zu notieren. An Ideen fehlt es nicht: Eine AG "Christiansen" ruft dazu auf, die gleichnamige TV-Sendung zu besetzen, eine andere sammelt Unterschriften für die Initiative Berliner Bankenskandal, eine "Streikband" sucht noch Musiker, Plakate werben für die samstägliche Demonstrationen vor dem Roten Rathaus.
Im Ostflügel des Gebäudes, befindet sich die zentrale Informationsstelle der protestierenden Studenten an der Humboldt-Universität.
tät. Seit vergangener Woche sind sie und die Kommilitonen der Freien Universität dem Vorbild der Technischen Universität gefolgt und in den Streik getreten, um gegen die Sparauflagen des Berliner Senats zu protestieren. Jeweils 54 Millionen Euro sollen die drei großen Universitäten in den kommenden beiden Jahren, weitere 75 Millionen Euro in den Jahren 2006-2009 einsparen. Dabei sind die Hochschulen bereits jetzt am Ende der Belastbarkeit.Preußische Zettelkataloge und Junk Food aus der MikrowelleIm Seminargebäude der HU am Hegelplatz beispielsweise drängeln sich in der Semesterzeit zuweilen 100 Studenten in Räume, die für 20 ausgelegt sind. Wer sich in der Bibliothek der Geschichtswissenschaftler über ein Buch informieren möchte, das älter als 30 Jahre ist, wird an einen Preußischen Zettelkatalog mit vergilbten Karten und Süterlinschrift verwiesen. Unter solchen Bedingungen lässt sich allenfalls noch etwas einsparen, wenn man ganze Fakultäten schließt."Klaus komm raus!" skandieren die Studenten der traditionsreichen Landwirtschaftlich-Gärtnerischen Fakultät vor dem Naturkundemuseum und fordern Berlins Regierenden Bürgermeister Wowereit auf, ihre Fragen zu beantworten. Sie wollen nicht einsehen, dass ausgerechnet ihr Studiengang in Zeiten von BSE und Schweinepest abgewickelt werden soll: "Euer Essen kommt nicht aus der Mikrowelle!" steht auf einem ihrer Transparente.Immerhin erreichen die Studenten, dass sich Wowereit am Eingangsportal des Museums ihren Fragen stellt. Seine Antwort, die Schließung sei innerhalb der Universität entschieden worden und dort auch zu diskutieren, befriedigt die Studenten nicht und wird mit einem Pfeifkonzert belohnt. Sie sind nicht gewillt, einer Rechtfertigungspolitik zu folgen, die Kürzungen stetig als Optimierungen bemäntelt und unter dem Begriff der "Hochschulautonomie" von sich weist.An den Einsparsummen, die der Senat und die Präsidenten der Universitäten im Frühjahr vereinbarten, dürfte trotz der Proteste nicht zu rütteln sein, sagt Torsten Wöhlert, Sprecher des Berliner Kultursenators Thomas Flierl. Um so wichtiger sei es, die Forderung nach mehr Mitbestimmungsrechte innerhalb der Universitäten zu unterstützen. Aber schützen mehr Mitbestimmungsrechte in den Gremien vor einem weiterem Rückzug des Staates aus bildungspolitischen Aufgaben?Die aktuelle Sparrunde ist nicht die Erste für die Berliner Hochschullandschaft. Im vergangenen Jahrzehnt wurden die Zuschüsse für die drei großen Universitäten kontinuierlich gedrosselt, was unter anderem dazu führte, dass das verbliebene Lehrpersonal 85.000 Studierende unterrichten sollte, tatsächlich aber 135.000 ausbilden muss.Deshalb fordern die Studenten vorhandene Studienplätze adäquat auszustatten, statt weiterhin zu streichen. Sie wollen keinesfalls für grobe bildungspolitische Versäumnisse in Zukunft auch noch zur Kasse gebeten werden, um das Geld am Ende in Haushaltslöchern verschwinden zu sehen. Gebühren für Langzeitstudenten, wie sie derzeit diskutiert und in einigen unionsgeführten Ländern eingeführt werden, strafen doppelt, argumentieren die Streikenden und verweisen auf die studienverzögernde Praxis, Seminarplätze per Losverfahren zu vergeben.Rebecca Brückmann hofft, ihr Studium schon im eigenen Interesse nicht lange ausdehnen zu müssen. Seit Mittwoch vergangener Woche ist sie täglich von 6 bis 22 Uhr auf den Beinen, zuweilen übernachtet sie gleich in der Universität. Am Revers ihres Mantels haftet ein blauer Zettel, der sie als "stolze Besitzerin eines Studienplatzes Romanistik" ausweist. Vom Infostand in der Humboldt-Universität aus koordiniert sie Termine, animiert Unschlüssige, an den Arbeitsgruppen teilzunehmen oder als Streikposten die Eingangstüren der Institute zu blockieren."Bei uns ist der Streik Mittel zum Zweck", sagt sie und lässt sich auch durch die Nachfrage, wen eine Arbeitsniederlegung von Studenten am empfindlichsten treffen würde, nicht beirren: "Mit dem Streik soll der Raum geschaffen werden, sich mit kreativen Protestaktionen zu engagieren." Es gehe darum, das Anliegen zu formulieren und wirksam in die Öffentlichkeit zu bringen.Ähnliches war bereits von den Teilnehmern des bundesweiten "Lucky" Streiks im Winter 1997/98 zu hören. Neu am Protest in Niedersachsen, Hessen, Bayern und Berlin ist, dass sich die neue akademische Generation nicht mehr einer breiten Sympathiewelle in der Öffentlichkeit sicher sein kann. Deshalb ist es den Streikenden wichtig, Bündnispartner zu finden, dauerhaft zu mobilisieren und die Einsparungen an ihren Hochschulen als Ausdruck sozialer Erosionsprozesse begreiflich zu machen, die alle betreffen. "Es gibt Vernetzungen zu Gewerkschaften und Sozialverbänden", sagt Rebecca Brückmann. Das bedeutet, ein Bündnis für eine wöchentlich stattfindende Montagsdemonstration zu bilden, die an die Proteste vom 1. November auf dem Berliner Alexanderplatz anknüpfen könnte.Studenten verändern die Welt - doch wer interpretiert sie?Etwas versteckt, hinter den Paravents, die Brückmann mit neuen Plakaten überklebt, zeigt eines der drei Buntglasfenster einen historischen Akteur: Umringt von Stahlkesseln, Elektrizitätsmasten und Atommodellen - Symbole einstiger Fortschrittsversprechen - steht dort ein Arbeiter, ballt die Faust und schaut in eine vergangene Zukunft. Darunter, etwas kleiner und in Augenhöhe wird Marx zitiert, der die Welt verändert und nicht nur interpretiert sehen wollte.Vorerst hat ein großer Teil der Berliner Studenten seine Interpretationswerkzeuge beiseite gelegt, um den Kopf frei zu halten für den aktiven Protest, der über den aktuellen Streit um Zahlungsverpflichtungen hinaus gehen müsste. So ließe sich zum Beispiel das Argument, eine Politik der Haushaltskonsolidierung diene der Generationengerechtigkeit versuchsweise einmal umdrehen mit der Behauptung, dass gerade der bestmögliche und ungehinderte Zugang zu Bildungsressourcen ein Garant dafür sein könnte, den allerorten beschworenen Folgen einer demographischen Alterung der Gesellschaft zu begegnen.Für eine solche Bildungspolitik ließe sich möglicherweise - es muss schließlich noch niemand davon erfahren - auch ein alternatives Modell der Hochschulfinanzierung erarbeiten und präsentieren, bevor die Sparkommissare es tun: sozial gerecht, ohne rigide Zeitbegrenzungen, ausschließlich für die Hochschulen bestimmt und vor jedem rüden Zugriff der Haushaltsplaner geschützt.Alexander Heinrich ist Student an der Humboldt-Universität zu Berlin und derzeit Praktikant des Freitag
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