Die Politiker sollen mal die Auslandsschulden einen Moment vergessen, und sich um uns kümmern!« sagt Paula energisch. Die schmächtige junge Frau hat ein elfmonatiges Baby, aber keine Arbeit, wie so viele in La Matanza, einem Viertel im heruntergekommenen Industriegürtel von Buenos Aires.
Am Rande des Quartiers wird wieder einmal die Zugangsstraße zur Innenstadt gesperrt. Etwa 2.000 Menschen sind zusammengekommen und blockieren die Durchfahrt. Ganze Familien mit Kindern sind dabei, kleine Zelte am Straßenrand aufzubauen, andere zünden Feuer an, um ihren Mate-Tee zuzubereiten, und hängen Spruchbänder auf: Gebt uns Arbeit!
Piqueteros - wörtlich übersetzt »Streikposten« - so heißt die neue Volksströmung Argentiniens, die hauptsächlich aus Arbeitslosen besteht. Die Piquetero-Bewegung ist ein urbanes Phänomen, im Gegensatz zu vergleichbaren Bewegungen in Lateinamerika wie etwa den Zapatisten in Mexiko oder den »Landlosen« in Brasilien, die sämtlich rurale Organisationen sind. Die Streikposten-Bewegung besteht aus den Hunderttausenden Arbeitslosen nur im Großraum Buenos Aires, die nach neuen Formen des Protestes suchen.
»Erst wenn wir die Straßen sperren, bemerkt uns überhaupt jemand«, erklärt ein junger Mann in einem verschlissenen Trainingsanzug. Ende Juli blockierten die Piqueteros an einem Tag im ganzen Land 500 Autobahnen und zentrale Zufahrtsstraßen; rund 150.000 Menschen waren an den Protesten beteiligt. Anfang August dauerten die Blockaden dann durchgehend 48 Stunden, Mitte August bereits drei Tage pro Woche, koordiniert mit Streiks der Lehrer und Universitäten. Die Leute protestieren gegen das Sparprogramm der Regierung, gegen Kürzungen der Gehälter und Renten, gegen Streichungen im Sozial- und Gesundheitsbereich; sie fordern Arbeit, menschenwürdige Unterkünfte, eine Ausbildung für ihre Kinder. Und sie haben Hunger.
Die obersten zehn Prozent der argentinischen Bevölkerung verdient 110 Mal mehr als die untersten zehn Prozent; das heißt, die Schere zwischen Arm und Reich klafft immer weiter auseinander. Argentinien war eines der wenigen Länder in Südamerika, in denen es einmal einen breiten Mittelstand gab, der heute zusehends verschwindet und sich zu seinem eigenen Erstaunen bei den Armen wiederfindet. Gleichzeitig dominiert eine Atmosphäre totaler Depression; die Hungernden suchen verzweifelt Arbeit; diejenigen, die arbeiten, haben Angst, ihren Arbeitsplatz zu verlieren; und die Leute, die Erspartes auf der Bank haben, befürchten, dass die Konten eingefroren werden.
Der Ausverkauf war gründlich und flächendeckend
Eigentlich mehr zufällig (aus Werbegründen) haben Psychologen in Buenos Aires gerade die »Nationalen Panik-Tage« ausgerufen - die Bevölkerung sollte sich kostenlos bei Psychologen auf Angst- und Beklemmungssymptome untersuchen lassen. Mit dem Wirtschaftskollaps hat die Aktion zu ungeahnter Brisanz und Aktualität gefunden. Ob im Bus oder Fußballstadion - es gibt nur noch ein Thema: den drohenden Zusammenbruch des Landes.
Argentinien ist ein reiches Land, mit riesigen Agrarflächen und verhältnismäßig wenig Menschen; es produziert Fleisch, Weizen, Soja, Obst. Es hat genug Vorräte an Süßwasser und eine ausgedehnte Küstenlinie für den Fischfang im Atlantik. Dazu kommen Ressourcen wie Öl und Erdgas. Was geschieht mit diesen natürlichen Reichtümern? Weshalb leiden die Menschen Hunger in einem Land, das Fleisch, Getreide und Erdöl exportiert? - Die Verbindlichkeiten von Zentralregierung und Provinzverwaltungen addiert, schuldet Argentinien per 1. August 2001 im In- und Ausland 165 Milliarden Dollar. Den Grundstein dieser Schuldenpyramide legte die Militärregierung zwischen 1976 und 1983. Vor dem Putsch vom März 1976 gab es Außenstände von acht Milliarden Dollar; als die Obristen nach dem verlorenen Falklandkrieg abtreten mussten, waren es 45 Milliarden Dollar. Um die fälligen Zinsen zu zahlen, nahmen die nachfolgenden demokratischen Regierungen neue Kredite zu immer ungünstigeren Zinsbedingungen auf. In den neunziger Jahren dann stieg unter der Präsidentschaft von Carlos Menem die Last auf 145 Milliarden Dollar, und der amtierende Staatschef Fernando De la Rúa steckt nun in der Klemme - er muss die Gläubiger bedienen, aber die Staatskasse ist leer: Es droht völlige Zahlungsunfähigkeit.
Einkommen aus Staatsunternehmen bezieht Argentinien nicht mehr, da die im vergangenen Jahrezehnt ausnahmslos privatisiert wurden. Diese Verkäufe waren Teil der Bedingungen, die erfüllt werden mussten, um Kredite von internationalen Finanzinstitutionen wie dem IWF zu bekommen. Dies alles lief unter dem Label: Liberalisierung und Umstrukturierung, einschließlich des Abbaus von Sozialleistungen und einer Öffnung der Grenzen für ungehinderte Importe. Argentinien war der Musterschüler des IWF, das Vorzeigeland des Neoliberalismus, das alle Vorgaben sorgfältig erfüllte. Der Haken war nur, dass Gelder, die durch die Privatisierungen von Staatsfirmen ins Land kamen, nicht investiert wurden - man zahlte damit beispielsweise Zinsen ab und honorierte die Vermittler der Unternehmensverkäufe
Die Vorgänge um die Erdölfirma YPF dürfen getrost zum Skandalträchtigsten der brachialen Privatisierungswelle gerechnet werden. 1990 bereits wurde das Unternehmen an die spanische Firma Repsol verkauft. Dort schraubte man sofort kostenintensive neue Bohrungen zurück und investierte nicht mehr im Land - was manche Orte, die von den YPF-Arbeitsplätzen abhängig waren, in Geisterdörfer verwandelte. Das privatisierte Unternehmen beschränkt sich nun darauf, die Rohölvorräte Argentiniens so schnell und so teuer wie möglich zu verkaufen, im Vorjahr für rund drei Milliarden Dollar. Durch den raschen Export - bei nur noch einem Sechstel der üblichen Bohrungen - schrumpfen die argentinischen Rohölvorräte rapide. Derzeit hat das Land noch Reserven für ganze neun Jahre. Im Vergleich: Mexiko hat Vorräte für 45, Venezuela sogar für 70 Jahre.
Fast logisch ist da der Skandal bei den Inlandspreisen für Rohöl und Benzin, denn die sind für ein erdölförderndes Land absurd hoch. Argentinien ist gezwungen, Rohöl bei Repsol zu Weltmarktpreisen zu kaufen, nicht etwa zu Vorzugskonditionen. Das heißt, die Argentinier bezahlen für ihr eigenes Erdöl soviel wie jeder beliebige andere Käufer. Die Benzinpreise in Buenos Aires sind inzwischen die höchsten in ganz Südamerika.
Ende eines Modells - das Gehalt in Gutscheinen
Da Argentinien auf dem privaten Markt keinen Zugang mehr zu neuen Krediten hat, versucht Wirtschaftsminister Domingo Cavallo einen frischen IWF-Kredit von mindestens sechs Milliarden Dollar zu bekommen, damit die argentinischen Banken liquide bleiben. Bedingung für diesen Kredit: die Privatisierung der Rentnerkrankenkasse und zwei weiterer Sozialdienste, die noch nicht privatisiert wurden. Es passt ins Bild, was gerade in einigen Provinzen geschieht, die de facto bankrott sind. Da die Administrationen dort kein Geld drucken können, um ihre Angestellten zu zahlen, gibt der Staat Gutscheine aus, also praktisch eine »Parallelwährung«. In manchen Provinzen bekommen die Angestellten nur noch zehn Prozent ihres Gehaltes in Pesos ausgezahlt; der Rest in Gutscheinen.
Das Motto dieser Tage heißt: Null Defizit. Der Staat soll nicht mehr ausgeben, als er einnimmt, und diese Rechnung soll Monat für Monat aufgestellt werden. Das entsprechend geschnürte Sparpaket von Wirtschaftsminister Cavallo sieht Kürzungen ab 13 Prozent beim ohnehin extrem niedrigen Gehalt von Lehrern und Beamten vor, ebenso bei den Renten. Das ungerechte Steuersystem wird hingegen nicht angetastet - im Klartext: Den Reichen geht es nicht ans Portemonnaie. Die großen internationalen Supermärkte, die es hier gibt, sind für zehn Jahre von Gewinnsteuern ausgenommen, ebenso wie Kreditkarten-Unternehmen. Die Gewinnsteuer ist überhaupt ein vorzügliches Beispiel: In Argentinien liegt sie bei drei bis vier Prozent, in den USA hingegen bei 13.
Das Sparpaket geht also nach hinten los, wenn nicht gleichzeitig eine Steuerreform stattfindet, damit auch die hohen Einkommen zur Kasse gebeten werden. Das jedoch passt nicht ins Weltbild von Domingo Cavallo, dessen berühmt-berüchtige Aussage vor einigen Jahren, er könne nicht mit weniger als 10.000 Dollar im Monat leben, noch in unangenehmer Erinnerung ist. Cavallo ist ein Minister für der Belange der Wall Street, und er macht auch gar keinen Hehl daraus.
Manche Kritiker fragen, warum demokratische Regierungen verpflichtet sein sollen, Kredite abzuzahlen, die eine nicht gewählte Militärregierung aufgenommen hat? Andere sagen, was am ehesten möglich wäre, sei eine geordnete Restrukturierung der Schulden - so beispielsweise der Rat von Ricardo Fuente, Chef der Consulting Ecolatina. Er meint, damit könne man den Gläubigern ein Minimum von Rückzahlungen garantieren, und zugleich dem Land einige Schulden erlassen, damit das Wirtschaftssystem überhaupt funktionsfähig bleibt.
Was der Regierung immer noch nicht klar zu sein scheint: Sie muss über Alternativen jenseits der Sparpraktiken von Cavallo nachdenken. Man starrt gebannt auf die Börsenkurse und das Länderrisiko, in der Hoffnung, dass der IWF das Land genauso retten wird wie 1995 das bankrotte Mexiko. Vielleicht keine irreale Erwartung. Es wäre in der Tat politisch äußerst peinlich für den IWF, wenn sein Mündel mit Pauken und Trompeten unterginge. Wem könnte man das neoliberale Modell dann noch verkaufen?
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