In den politisch höchst diversen Jahrzehnten meiner verlegerischen Praxis gab es zwar kaum eine Möglichkeit, gutes Büchermachen aus wirtschaftlichen Zwängen zu lösen – mein Herzblutprojekt sind politische Krimis von Frauen, und Literaturförderungen scheuten allzeit die Genreliteratur, sei sie noch so exzellent–, dafür bestand jedoch immerhin eine relativ stabile vertriebliche Struktur am Buchmarkt. Das war Lichtjahre entfernt von einem Bekenntnis zum Kulturauftrag, aber doch eine geordnete Leistungskette.
Die Kette, die unabhängige Verlage und speziellere Bücher, sogar Nischentitel nicht hermetisch ausschloss, verlief von der Auslieferung des produzierenden Verlags zum Buchhandel oder zum Zwischenbuchhandel. Im Inland spielen die Barsortimente die entscheidende Rolle: Als Lager- und Logistikdienstleister gewährleisten sie Zugriff auf die ganze Palette lieferbarer Bücher, schnell und unkompliziert. Das Barsortiment ist bildlich gesprochen das virtuelle Lager des kleinen Buchladens, die virtuelle Sortimentsbreite. Ein Blick der Buchhändler*in ins System, und fast jeder Titel kann bestellt werden, ist tags drauf abholbar.
Je mehr der Buchhandel durch Branchenkonzentration und den Internethandel in Bedrängnis geriet, umso bedeutsamer wurde die Rolle der Barsortimente. Im Januar meldete das größte deutsche Barsortiment KNV Insolvenz an, ein Erdbeben im System. Wenige Monate später meldete das zweitgrößte deutsche Barsortiment Libri einen radikalen Abbau der lieferbar gehaltenen Titel. Libri kürzte seinen Bestand um 250.000. Es sind Titel, die nun in manchen Sortimenten nicht mehr auftauchen, auch bei vielen Onlineanbietern nicht. Titel, die Libri als Remissionen den Verlagen zurückgibt. Eine offizielle Kommunikation zur neuen Strategie gab es bislang nicht, nichtsdestotrotz hat Libri mit den Auslistungen und Remissionen bereits Fakten geschaffen. Teilweise sind die Auslistungen nicht nachvollziehbar, wenn zum Beispiel Band vier einer zehnbändigen Reihe verschwindet. Für die Kunden sind manche Titel nicht mehr sichtbar – außer bei Amazon. Das macht es gerade den kleineren Verlagen künftig noch schwerer, im Buchmarkt zu bestehen. Auch hinterlässt es keinen guten Eindruck, wenn der stationäre Buchhändler dem Kunden sagt, ein Buch wäre nicht lieferbar, dieser aber feststellt, dass es bei Amazon vorrätig ist.
Das Ausmaß der Auslistungen ist sehr unterschiedlich. Bei einigen wurde kaum ausgelistet, bei anderen bis zu 90 Prozent. Ebenso ist es mit den Remissionen: Teilweise bewegen sie sich im üblichen Rahmen, doch für einige Verleger ist die Höhe existenzbedrohend. Die Neustrukturierung bei Libri ist durchaus systemrelevant.
Wie sieht das aus, wenn die schiere Quantität der Nachfrage die „Spreu“ vom „Weizen“ trennt? Die Kurt-Wolff-Stiftung zur Förderung einer vielfältigen Verlags- und Literaturszene sah sich dieser Tage veranlasst, die Branche sowie die Leser*innen aufzurütteln. „Denn jede gute Buchhandlung wird jedes lieferbare Buch besorgen.“ Und selbst eine keineswegs kapitalismuskritische Politik sieht die Entwicklung mit Besorgnis. Auf der Buchmesse in Frankfurt hat die Bundesregierung über 60 unabhängigen Verlagen erstmals den Deutschen Verlagspreis verliehen, es ist das derzeit einzige spürbare Signal, dass Bibliodiversität gebraucht wird.
Der Kultur- und Bildungsauftrag rund ums Buch wird von der Profitmaxime ausgehöhlt, er gehört aus dem Wirtschaftswürgegriff gelöst und als extrem relevante Ressource für die Gesellschaft erkannt.
Kommentare 2
Speziell für nicht so bekannte oder Special-Interested-Titel ist die von libri & Co. durchgeführte Sortimentsausdünnung so etwas wie ein Abdrängen auf den Graumarkt – wobei kleine Verlage die besonders Leidtragenden sein dürften. Praktisch dürften vor allem die beiden Faktoren Präsenz und Lieferbarkeit dabei stark zu Schaden kommen. »Auffindbar« sind derartige Titel ja nur bei amazon, den Webseiten der Verlage oder entsprechend spezialisierten Internetseiten. Lieferbar ist nach meiner Erfahrung so gut wie alles – jedenfalls, so lange die Titel nicht verlagsseitig makulatiert wurden.
Bleibt als »Schleichweg« künftig nur die Strecke Info über Verfügbarkeit aus dem Internet – Buchhändler – Direktbestellung beim Verlag. Wobei für letzteres in der Regel ein Bearbeitungsweg von roundabout einer Woche zu veranschlagen wäre. In Bezug auf die im Beitrag aufgerollten Fragen wäre die Überlegung nicht abwegig, ob libri & Co. nicht Grossisten für ein Grund-Kulturgut wären – und via Regulierung, wenn es anders nicht geht, entsprechend zur Vorhaltung des gesamten Sortiments verpflichtet werden sollten.
Ein wenig erinnert mich die Argumentation im Artikel an die Meldungen und Zahlen zum Klimawandel. Dort wird ein Ziel postuliert, welches von einer relativ willkürlichen Basis ausgeht. Je nachdem, wo man den Basispunkt setzt, kann man den Wandel als mehr oder weniger dramatisch darstellen. Es wäre also zuerst einmal zu fragen, wo die Autorin ihren Ausgangspunkt setzt, sprich, welche Anzahl an Verlagen, wie viele Neuerscheinungen und welche Auflagen stehen zur Debatte. Dann kann man weiter fragen, welche Entwicklungen im Buchmarkt vonstatten gegangen sind und wie sich die Kunden verändert haben. Menschen haben nur eine begrenzte Zeit und Muße zum Lesen. Diese werden von ihren Arbeitsbedingungen und von anderen Tätigkeiten, die Aufmerksamkeit erfordern, wesentlich begrenzt. Wachstum ist da bei vielen nicht mehr möglich, eher das Abdriften in andere Beschäftigungen wie soziale Netzwerke, Internet, Videos usw. Ich komme aus der DDR und kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie wir dienstags in die Buchhandlung gingen um das sehr schmale Blatt mit den Neuerscheinungen zu studieren und wenn möglich die eine oder andere Bestellung zu tätigen. Es reichte immer dafür, dass die fürs Lesen zur Verfügung stehende Zeit mehr als ausgefüllt war. Wenn ich mir heute ansehe, wie viele Neuerscheinungen es täglich gibt, von den Regalen in den viel zahlreicheren Buchhandlungen und Bahnhofskiosken ganz zu schweigen, dann frage ich mich seit langem, wer das alles lesen soll und wie die Autoren, Lektoren, Verleger und (Zwischen-)Händler davon leben wollen. Wenn jetzt das bisherige Geschäftsmodell nicht mehr funktioniert, dann sehe ich die Hauptursache in dem ungezügelten Wachstum der letzten Jahrzehnte, auch hervorgerufen durch viel einfachere Produktionsbedingungen und weniger Filter. Jeder kann praktisch alles auf den Markt bringen. Einen weiteren Grund sehe ich in der mangelnden Flexibilität der Verlage, elektronische Märkte wirklich anzusprechen. Das wäre aus meiner Sicht die Chance kleiner Verlage. Es macht sie unabhängiger von den Vertriebswegen.