Wann immer man nach Polen schaut – es gibt Proteste, so auch jetzt durch aufgebrachte Ärzte. Junge Mediziner aus einem chronisch kranken Gesundheitssystem sind teilweise in den Hungerstreik getreten. Es geht um mehr staatliche Leistungen, statt wie bisher 4,7 sollen 6,8 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) der Gesundheitsfürsorge zugutekommen. Die seit Ende 2015 regierende nationalkonservative Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) mit Premierministerin Beata Szydło und dem De-Facto-Staatslenker Jarosław Kaczyński hat zwar inzwischen einen Zuwachs versprochen, doch sind die Protestler nicht zufrieden. Der Ausstand, den Gesundheitsminister Konstanty Radziwiłł einen „Skandal und keinen Streik“ nennt, geht vielerorts weiter. Fast 70 Proze
ozent der Polen unterstützen das Verlangen der Ärzte, sodass Regierungskritiker gar auf eine Sturmfront hoffen, die endlich das PiS-Schiff ins Schlingern bringt.Doch sitzt die PiS zur Hälfte der Legislaturperiode so fest im Sattel wie nie zuvor. Ihre Zustimmungswerte liegen zwischen 40 und 47 Prozent und damit höher als bei ihrem Wahlsieg im Oktober 2015 (37,6 Prozent). „Es gibt niemanden, durch den die PiS verlieren kann“ – mit diesen Worten eröffnete jüngst der Journalist Grzegorz Kajdanowicz die populäre Sendung Fakty im regierungskritischen TV-Sender TVN. Das ist so, obwohl die Regierung weiter an Grundfesten der demokratischen Ordnung rüttelt, die sich häufenden rassistischen Gewalttaten totschweigt, die öffentlich-rechtlichen Medien zur Propaganda missbraucht und mit Hilfe von Staatsanwaltschaften gegen widerständige Journalisten vorgeht. Trotz der landesweiten Proteste im Juli steht eine umstrittene Reform der Gerichte ebenso weiter auf der Agenda wie eine Änderung des Wahlrechts, die der PiS einen für sie günstigeren Zuschnitt der Wahlkreise für die Sejmwahl 2019 verschaffen soll.Dass Kaczyński und sein Anhang bei diesem Votum auch ohne eine solche Reform triumphieren dürften, hat handfestere Gründe, als die Opposition und viele Medien wahrhaben wollen. Die PiS-Regierung hat sich in den vergangenen zwei Jahren sozialpolitisch geradezu verausgabt und Umverteilungsmaßnahmen ergriffen, die seit 1990 ihresgleichen suchen. Sie kann auf ein kräftiges Wirtschaftswachstum, sinkende Arbeitslosigkeit und eine verbesserte Situation vieler bislang benachteiligter Schichten verweisen. Dass der Ärzteprotest ausgerechnet jetzt ausbrach, ist kein Zufall, denn die Regierungspartei hat mit ihrem Vorgehen Begehrlichkeiten geweckt und das nicht nur im Gesundheitswesen.Konkurrenz ohne CharismaBereits im Vorjahr wurde in Polen erstmals ein gesetzliches Mindesteinkommen eingeführt und damit das grassierende Lohndumping aufgefangen. Hinzu kam ein neues, für polnische Verhältnisse relativ hohes Kindergeld (500+), das wenig begüterten Familien besonders in ländlichen Gegenden Luft zum Atmen verschafft und spürbar den Konsum ankurbelt. Zum Ensemble sozialpolitischer Wohltaten gehören gleichsam die aufgestockten Mindestpensionen wie die Entscheidung, die 2012 eingeführte Rente mit 67 wieder zu kassieren. 2016 startete außerdem ein staatliches Bauprogramm, um die Wohnungsnot zu drosseln. Schließlich wurde ein Gesetz auf den Weg gebracht, das die brachialen Auswüchse der Reprivatisierung von Immobilien in Warschau und anderen Städten, denen seit 1990 unzählige Mieter zum Opfer fielen, korrigieren soll. Die Vorgängerregierungen taten hier jahrelang nichts. „Wer weiterhin glaubt, es war unumgänglich, dass einige zehntausend Einwohner Warschaus im Namen der Philosophie von der Reprivatisierung aus ihren Häusern und Wohnungen geworfen wurden, wird niemals verstehen, warum die PiS an die Macht kam und – noch wichtiger – an der Macht bleibt“, schreibt der bekannte linke Publizist Roman Kurkiewicz.Wie reagiert die liberale Opposition auf die sozialpolitischen Aufschläge der PiS? Ex-Premierministerin Ewa Kopacz sagt: „Wir regierten in einer Zeit, als es weniger Geld gab.“ Diese Deutung steht stellvertretend für die fehlende Bereitschaft ihrer Bürgerplattform (PO), eigene Fehler einzuräumen. Der bürgerliche Konkurrent der PO – die Nowoczesna (Moderne) – hält noch entschlossener an der neoliberalen Doktrin fest. Beide Parteien bilden den Kern der parlamentarischen Opposition, doch viel mehr als das Versprechen einer Rückkehr zum Status quo von 2015 bringen sie kaum zustande. Das Führungspersonal ist ideenlos und ohne Charisma. Beide Parteien liegen in Umfragen darnieder, die PO bei 16 bis 20 Prozent, die Moderne bei sechs bis acht.„Die Mehrheit der Polen sieht die Versäumnisse der PO bei der Reprivatisierung und der Umverteilung des Wohlstands. Man erinnert sich der schlechten Absicherung durch den Staat sowie an prekäre Arbeitsverträge“, so der Soziologe Maciej Gdula. Er hat ein Buch mit dem Titel Neoautoritarismus verfasst, in dem er die Spezifika von Kaczyńskis Vorgehen als Zusammenspiel von autoritären und parlamentarischen Instrumentarien deutet, inklusive Wahlen. „Zunächst einmal ist dies ein klassischer Autoritarismus, der Aufbau einer starken Verbindung zum Führer, um ein größeres Gefühl von Stärke und Gemeinschaft zu vermitteln“, so Gdula. Fälschlicherweise werde ein solcher Kurs als Flucht vor der Freiheit verstanden. Kaczyński gebe seinen Anhängern aber die Freiheit, andere Menschen an den Rand zu drängen – und zwar alle, die mit der PiS-Vision nicht einverstanden seien.Alles in allem ist ein erneuter PiS-Wahlsieg in zwei Jahren wahrscheinlich, zumal 2018 der 100. Jahrestag der Auferstehung des polnischen Staates nach 123 Jahren der Teilung begangen wird. Für die auf Nationalpathos versessenen Konservativen ein gefundenes Fressen, um ihre Vision eines neuen Polen zu befeuern. Sollten Wirtschaftskrisen das Land verschonen, kann sich die PiS nur selbst ein Bein stellen, was bei allzu großem Machthunger durchaus möglich ist. Die damit einhergehende Arroganz hat zu einem fragwürdigen Konfrontationskurs gegenüber der EU wie Deutschland geführt. Man denke an vehement vorgetragene Reparationsforderungen. Auch der herablassende Umgang mit den streikenden Ärzten, deren Anliegen ein großer Teil der PiS-Anhänger teilt, zeugt von Selbstüberschätzung. „Es ist schon etwas wert, für eine Idee zu arbeiten und nicht nur an Geld zu denken“, kanzelt Senatspräsident Stanisław Karczewski die jungen Mediziner ab, deren Nettogehalt im Schnitt bei umgerechnet 600 Euro liegt. „Sollen sie doch ins Ausland fahren“, wettert eine PiS-Abgeordnete gegen die Ärzte. Nicht nur bei diesem Konflikt gießt die Regierung unbedacht Öl ins Feuer und ist damit ihr größter Gegner.