Kleinere Beben riskieren

Bosnien-Herzegowina Wolfgang Petritsch, einstiger Hoher Repräsentant in Bosnien-Herzegowina, rät den Europäern, sich im Kosovo von den Amerikanern nicht abhängen zu lassen

Fünf Jahre nach Ende des Kosovo-Krieges verlangen immer mehr Politiker eine maßgebende Rolle der EU in dem seit Juni 1999 von den Vereinten Nationen verwalteten Protektorat. Die in der UN-Resolution 1244 verankerte UN-Übergangsverwaltung für das Kosovo (UNMIK) war jüngst unter scharfe Kritik geraten, da es ihr nicht gelang, pogromartige Ausschreitungen militanter albanischer Nationalisten zu stoppen. Dabei starben 19 Menschen, mehr als 800 wurden verletzt, zahlreiche serbisch-orthodoxe Kirchen und Klöster gingen in Flammen auf. Neben exekutiven und legislativen Befugnissen fällt auch die Rechtsprechung im Protektorat unter die Verantwortung der UNMIK-Administration mit ihren knapp 10.000 Angestellten.

Als Reaktion auf die Unruhen erklärte der frühere finnische Premier Harri Holkeri, der erst im August 2003 den Posten des UNMIK-Chefs angetreten hatte, Ende Mai seinen Rücktritt. Als mögliche Nachfolger gelten der Norweger Kay Eide - er leitete in den neunziger Jahren die UN-Polizei in Bosnien-Herzegowina -, der niederländische Diplomat Peter Faith sowie Irlands Ex-Außenminister Dick Spring. Auch der Oberkommandierende über die NATO geführte Schutztruppe KFOR, der deutsche General Holger Kammerhof, wird das Kosovo als Konsequenz aus den Ausschreitungen vorzeitig verlassen.

Laut UN-Resolution 1244 vom Juni 1999, der völkerrechtlichen Grundlage für die UN-Präsenz im Kosovo, kann nur der Sicherheitsrat über eine Sezession Pristinas von Belgrad entscheiden. Im Gespräch mit dem Freitag plädiert Wolfgang Petritsch - bis zum Beginn des NATO-Krieges gegen Jugoslawien im März 1999 Kosovo-Sondervermittler der EU - für den baldigen Beginn einer Debatte über den endgültigen Status der völkerrechtlich weiterhin zu Serbien-Montenegro gehörenden Provinz. Nach Ende seiner Kosovo-Mission war Petritsch bis Frühjahr 2002 Hoher Repräsentant der internationalen Gemeinschaft in Bosnien-Herzegowina. Heute vertritt er Österreich als Botschafter bei den Vereinten Nationen in Genf.

FREITAG: Wenn Sie die aktuelle Lage des Kosovo in Betracht ziehen, würden Sie dann dem NATO-Krieg von 1999 noch einmal zustimmen?
WOLFGANG PETRITSCH: Ich bin auch heute noch überzeugt, dass die Intervention richtig und notwendig war, obwohl ich persönlich eine Verhandlungslösung vorgezogen hätte, keine Frage. Die jüngsten tragischen Ereignisse im Kosovo, die Toten von Mitrovica, die Zerstörungen und Brandschatzungen bedeuten freilich einen schweren Rückschlag für eine Befriedung der Provinz. Die halbe Welt hat für die Menschenrechte im Kosovo interveniert. Gerade die Albaner dort sollten Versöhnungsbereitschaft zeigen und endlich die vertriebenen Serben und Roma in ihre gemeinsame Heimat zurückholen.

Welche Schuld tragen die Protektoratsmächte an den jüngsten pogromartigen Ausschreitungen?
Zweifellos hat die internationale Gemeinschaft eine erhebliche Mitverantwortung - sie wird ihre Strategie ernsthaft überprüfen müssen.

Die EU hat nach den Krawallen mit der Entsendung eines Sondergesandten reagiert. Sollte dieser mit ähnlichen Machtbefugnissen ausgestattet werden wie der Hohe Repräsentant in Bosnien-Herzegowina?
Grundsätzlich gilt, dass die Resolution 1244 erfüllt werden muss und auch die UNMIK so lange bleibt, bis die Statusfrage geklärt ist. Außerdem glaube ich nicht, dass Europa allein sie lösen kann. Hier müssen die USA, hier muss Russland, hier muss die ganze Weltorganisation eingebunden bleiben. Im Hinblick auf die Zeit danach sollte man allerdings schon jetzt viel stärker auf eine Europäisierung der UN-Mission drängen. Letzten Endes gilt für das Kosovo, was auch für Bosnien gilt oder für Serbien: Wenn es zu einer Lösung kommen soll, muss Europa konkrete Angebote Richtung EU-Beitritt unterbreiten.

Ist die von Ex-UNMIK-Chef Michael Steiner entworfene Formel "Standards vor Status", mit der demokratische, marktwirtschaftliche und menschenrechtliche Normen vor eine Entscheidung über die Unabhängigkeit gestellt werden, noch das richtige Rezept?
Die Statusfrage nur auf das rein Staatsrechtliche zu reduzieren, ist nicht genug. Man sollte endlich anfangen durchzudeklinieren, was es bei einer Status-Entscheidung an möglichen Konflikten geben könnte, um nicht die Kontrolle über die zu erwartende Dynamik zu verlieren. Deshalb meine ich, dass die Formel heute eher "Standards und Status" lauten sollte. Entscheidend ist, man braucht für das Kosovo - ja, die gesamte Region - so etwas wie einen Europa-Status. Es kann nicht um nationalstaatliche Konzepte wie im 19. oder 20. Jahrhundert gehen. Stattdessen wäre zu fragen: Wie soll dieses Kosovo, wie soll dieses Serbien in zehn Jahren aussehen?

Der frühere US-Sondergesandte Richard Holbrooke hat Anfang 2004 die Unabhängigkeit des Kosovo gefordert.
Sollte dies zur offiziellen Position der USA werden, dann hätten wir ein großes Problem: Der Kosovo liegt schließlich immer noch in Europa und könnte sich nicht einfach als 51. Staat den USA anschließen. Insofern tut sich ein amerikanischer Beobachter auch leichter mit solchen Aussagen. Gerade deshalb muss die internationale Gemeinschaft eher heute als morgen mit ernsthaften Anstrengungen beginnen, um den Status zu klären.

Ziehen Europa und die USA auf dem Balkan wirklich noch an einem Strang?
Westeuropa war zur Zeit des Kalten Krieges Juniorpartner der Amerikaner - das ändert sich jetzt. Diese tektonische Verschiebung führt auch zu kleineren Beben - gerade in einer so sensiblen Region wie dem Balkan. Ich würde das nicht überschätzen, auch wenn diese Entwicklung der EU nahe legt, hier wirklich die politische Führungsrolle zu übernehmen und das Tempo für Veränderungen vorzugeben.

In Bosnien übernimmt die EU 2004 das Oberkommando über die bislang NATO geführte Schutztruppe SFOR. Sollte sie im Kosovo auf eine Ablösung der NATO drängen?
Ich glaube, in militärischer Hinsicht muss man die Dominanz der USA durchaus anerkennen und auch nutzen. Dennoch sollte ebenso klar sein, dass kurzfristig in Bosnien und nach Klärung der Statusfrage mittelfristig auch im Kosovo eine europäische - auch militärische - Führungsrolle das Richtige ist.

Das Gespräch führte Markus Bickel

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