Es krachte in der Labour-Partei über die Sommermonate hinweg wie selten zuvor. Jeremy Corbyn stand unter Beschuss parteiinterner Kritiker, Woche für Woche der Vorwurf, er toleriere Antisemitismus und unterhalte Beziehungen zu Terroristen. Von den Medien wurde die Debatte nach Kräften angeheizt. Zuweilen nahm der Wirbel Ausmaße an, dass es nicht überrascht hätte, wäre Corbyn zurückgetreten. Anders sah es aus, richtete man den Blick aufs Land jenseits der Blase von Westminster. Corbyn war denn auch kaum im Londoner Regierungsviertel anzutreffen. Stattdessen tat er genau das, was er schon seit vier Jahrzehnten vorzieht: Er reiste durchs Land und sprach mit den Leuten. So sah man ihn Mitte August im nordenglischen Mansfield, wo er zur Gründung einer lokalen Community-Kampagne von Labour anreiste. „Wir können die nächste Wahl gewinnen, weil wir die Allgemeinheit mobilisieren“, so Corbyn. „Wir umgehen die Mainstreammedien und fragen die Leute direkt: Was ist euch für euer Leben wichtig? Wohnungen, Jobs, Ausbildung?“
Erst ein Anfang
Das mag wie eine Floskel klingen, die man von Politikern oft hört, doch läuft seit Antritt des linken Parteichefs vor drei Jahren das Corbyn-Projekt darauf hinaus, die Gesellschaft für die Politik zurückzugewinnen und eine Basisbewegung jenseits des parlamentarischen Betriebs anzustoßen. Schon Corbyns Kampagne für den Parteivorsitz hatte Züge einer Massenbewegung: Zehntausende stießen zur Partei, die inzwischen weit über eine halbe Million Mitglieder zählt. Um die „Corbynmania“ danach aufrechtzuerhalten, wurde im Herbst 2015 die Organisation „People’s Momentum“ gegründet. Sie soll Labour im realen Leben verankern und Corbyns linkes Programm flankieren. Wie wirksam die gut 35.000 Mitglieder sein können, zeigten sie mit der Unterhauswahl im Frühjahr 2017: Momentum-Aktivisten, viele von ihnen jung und politisch unverdorben, gingen im Land Klinken putzen, telefonierten mit Wählern und produzierten Werbevideos, die sie via Twitter und Facebook verbreiteten. Für den Triumph von Labour, das entgegen allen Erwartungen über 30 Sitze hinzugewann, waren die Aktivisten entscheidend.
Um die Partei von einer Parlaments- zu einer gesellschaftlichen Kraft umzuformen, will Labour permanente Strukturen in den Kommunen und soziales Engagement in den Vordergrund rücken. Wie sonst sollte Rechtspopulismus begegnet werden? Darin sehen Momentum wie die Labour-Führung ihre Priorität. Deshalb sollen die Aktivisten überall sein: als Streikposten bei Assistenzärzten, die bessere Verträge fordern; beim Protest der Dozenten, die sich gegen gekürzte Renten wehren; bei Kundgebungen der Kinoangestellten, die einen lebenssichernden Lohn verlangen.
Im nördlichen Lancaster etwa bauten Momentum-Mitglieder mehrere Garküchen auf, in denen arme Bürger mit Essen versorgt werden; in einem Gemeindezentrum in Glasgow können Geringverdiener Spielzeug für ihre Kinder austauschen; in London kooperiert Momentum mit ethnischen Minderheiten gegen diskriminierende Polizeipraktiken. Noch steht die Rückkehr zum Bürger erst am Anfang, aber dass dieser Kurs wahrgenommen und geschätzt wird, zeigen die Umfragewerte: Auch wenn Corbyn permanent diffamiert wird, halten sich Konservative und Labour derzeit die Waage. Bei Neuwahlen würde nach allgemeiner Erwartung die Linke gewinnen.
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