Klopfen

Kehrseite II Zuerst hörte er das Klopfen nur nachts. Ein gleichmäßiges Pochen, das ihn begleitete bis in den Schlaf. Die Baustelle, dachte er. Neben seiner ...

Zuerst hörte er das Klopfen nur nachts. Ein gleichmäßiges Pochen, das ihn begleitete bis in den Schlaf. Die Baustelle, dachte er. Neben seiner Wohnung wurde ein Haus gebaut. Da wird jemand Nachtschicht schieben, sagte er sich. Dann hörte er das Klopfen häufiger. Morgens, wenn er aufwachte, nachmittags, wenn er heimkam. Immer im gleichen Rhythmus. Tock, Tock, Tock. Nicht zum Aushalten, redete er mit seiner Nachbarin im Hausflur. Doch sie hörte nichts, hatte das Klopfen noch nie gehört, sah ihn verständnislos an. Als fände das Pochen nicht auf der Baustelle, sondern in seinem Kopf statt. Er schloss verwirrt die Tür. Ihre Wohnung lag näher zur Baustelle, sie hätte das Klopfen eigentlich hören müssen. Hatte er Tinnitus?

Er ging zum Arzt. Ich höre Klopfen, sagte er, ein gleichmäßiges Tock, Tock, Tock, jede Stunde des Tages, jedoch nicht im Büro, nur in meinem Haus. Der Arzt verschrieb blutdrucksenkende Mittel, empfahl weniger Stress. Aber er hatte keinen Stress, hatte noch nie Stress empfunden, wusste gar nicht, was das war.

Das Klopfen hörte nicht auf. Ihm war, als säße jemand in seiner Wand neben dem Bett und würde gegen das Gemäuer pochen. Er zog sich das Kissen über den Kopf, wurde schlaflos, nervös, fühlte sich verfolgt, ausgelaugt.

Er ging das Ganze von der seelischen Seite an. Dachte sich, ich höre etwas, damit ich etwas anderes nicht höre. Ich höre das Klopfen, damit andere Sachen nicht in mein Gehör dringen. Er konzentrierte sich nun auf die Pause zwischen dem Klopfen, lauschte auf die Stille zwischen dem gleichmäßigen Tock, Tock. Hielt die Luft an, um nur diese Stille zu hören, die Botschaft, die darin für ihn versteckt war. Ein Flüstern vielleicht, ein Wispern. Ich habe einfach falsch wahrgenommen, dachte er sich, nicht auf das, was ich höre, hätte ich mich konzentrieren sollen, sondern auf das, was ich nicht höre.

Doch er fand nichts, keine Botschaft, keinen Satz, kein Geräusch, nichts, das speziell für ihn bestimmt war. Kein Geheimnis.

Doch je intensiver er sich auf die Stille konzentrierte, desto länger erschien sie ihm. Die Abstände zwischen dem Klopfen wurden länger, sie dehnten sich aus, und irgendwann verlor er sich in der Stille, er war nicht mehr da, als das nächste Pochen kam.

Sandra Niermeyer lebt und schreibt in Bielefeld. Zuletzt erschien im Freitag 14/2007 ihr Text In alter Zeit.


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